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Kranke
Seelen brauchen Hilfe |
Solche Befunde mochte das Saarländische
Ärzteblatt dann doch lieber nicht veröffentlichen - auf Druck der
Kassenärztlichen Vereinigung sei die ursprüngliche Zusage zurückgezogen
worden, klagt Professor Siegfried Zepf. Der an den Universitätskliniken des
Saarlands tätige Mediziner hatte vorletzten Frühling gar zu unangenehme Daten
erhoben, die erst dieses Jahr schließlich in einer Fachzeitschrift
erschienen. Danach wird im Saarland jeder Zweite weggeschickt, wenn er bei
einem Psychotherapeuten Hilfe sucht - die Wartelisten sind zu lang. Noch peinlicher: Während schon Privatpatienten und
bei Ersatzkassen Versicherte dreieinhalb Monate auf einen Therapieplatz
warten mussten, kamen AOK-Patienten sogar erst nach der doppelten Zeit dran.
Denn die gesetzlichen Kassen zahlten besonders mickrige Stundensätze, und schon
in einer früheren Befragung hatte jeder zweite Helfer zugegeben, sich davon
bei der Patientenauswahl leiten zu lassen. Schlussendlich war nicht einmal
jeder dritte Patient bei einer gesetzlichen Kasse versichert, obwohl fast die
Hälfte der Bevölkerung dort ihre Beiträge zahlt. Saarland ist überall: Wer Psychotherapie braucht,
bekommt sie in Deutschland meist noch immer nicht. Dabei ist der Psychoboom
der vergangenen Jahrzehnte bereits sprichwörtlich. Schon 1995 konnten die
Psychotherapeuten auf eine Verfünfzehnfachung ihrer Behandlungen seit 1980
zurückblicken. Auch in jüngerer Zeit schafften die Psychologen jährliche
Umsatzsteigerungen von zehn Prozent und mehr. Vor allem in Unistädten, wo
sich die frisch ausgebildeten Therapeuten am liebsten gleich niederlassen,
wirken sie inzwischen viel zahlreicher, als die Bedarfsplanung vorsieht. Doch
anderswo herrscht Mangel. Noch immer werden weit mehr Seelenkundler benötigt,
als vorhanden sind. In ganz Sachsen-Anhalt kümmern sich weniger Therapeuten
um gramgeplagte Bürger, als allein in Heidelberg sitzen - rechnerisch ist
jeder für 18 000 Einwohner zuständig. Die Kinder und Jugendlichen des
Ostlandes versorgt eine einzige Fachkraft. Minderjährige werden allerdings auch anderswo
besonders vernachlässigt. Selbst im Therapeuten-Mekka München wird nur jedes
fünfte Problemkind halbwegs angemessen behandelt, ermittelte das
ortsansässige Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Nicht besser ergeht es den
Alten. Die Zahl der gerontopsychiatrischen Zentren und Ambulanzen bewertet
der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen mit
"ungenügend". Aber auch wer nicht besonders jung oder alt ist, wird
eher selten richtig behandelt. Neun Millionen Deutsche trinken nach
Berechnung des Münchner Instituts für Therapieforschung gefährlich viel. 2,7
Millionen missbrauchen Alkohol, und 1,6 Millionen sind abhängig. In
Behandlung befinden sich jedoch gerade mal 170 000 - nur jeder Neunte
des harten Kerns. Von den vier Millionen depressiven Deutschen
wiederum "erhalten derzeit nur etwa 10 Prozent aller Betroffenen eine
Therapie, die dem Stand der Forschung entspricht", beklagt Professor
Ulrich Hegerl vom Kompetenznetz Depression. Und wer gar an einer somatoformen
Störung leidet, bei der sich psychische Probleme in körperlichen Symptomen
äußern, wird vom Hausarzt erst recht nicht zu einem Spezialisten geschickt,
sondern meist vergeblich medizinisch behandelt. Unerkannte Probleme sind teuer Wirtschaftlich betrachtet warten also riesige
Marktlücken auf Psychotherapeuten, selbst bei geringeren Psychostörungen
könnte ihr Einsatz zudem längerfristig kostensparend wirken. Schlichte
Einschlafprobleme beispielsweise, die viele alte Leute zu guten Kunden der
Pharmaindustrie machen, lassen sich besser mit einer kurzen Psychotherapie
behandeln, ergab vor zwei Jahren eine kanadische Studie. Zu tun gibt es somit genug, doch die für die
Honorare zuständigen kassenärztlichen Vereinigungen zahlen nur ungern an
Seelenkundler. Bei einem internationalen Vergleich vor zwei Jahren lagen die
deutschen Sätze hinter Spanien und Südafrika auf dem elften Platz. Für die
Therapiestunde gab es gerade mal 80 Mark. Das Bundessozialgericht erhöhte den
mickrigen Lohn vor kurzem für die sechs Jahre vor 1999 rückwirkend auf 145
Mark, weshalb sich die Therapeuten nun einige hundert Millionen Mark
Nachzahlungen teilen dürfen. Für die Zukunft könnten sich die kassenärztlichen
Vereinigungen allerdings wieder neue Begründungen fürs Kürzen einfallen
lassen. "Ich bin ganz sicher, dass uns jetzt andere Rechenkunststücke
präsentiert werden", schwant Karin Flamm, Präsidentin des Deutschen
Psychotherapeutenverbands. An Geiz mangelt es jedenfalls nicht. Schon jetzt
gibt es für die ebenfalls einstündigen Probesitzungen vor der eigentlichen
Therapie oft unter hundert Mark, sofern die gesetzliche Krankenversicherung
zahlen muss. In Sachsen werden sage und schreibe 3,92 Mark überwiesen.
Billiger kommt das allerdings nicht unbedingt: Viele Behandler fangen dann
eben gleich mit der eigentlichen Therapie an. Der Kampf ums Geld im
medizinischen Komplex ist hart, und die erst Anfang 1999 mit dem
Psychotherapeutengesetz offiziell in den Heilerstand Erhobenen fürchten
Sabotage der Alteingesessenen. Schon tönte der Neurotransmitter,
Verbandsorgan der Nervenärzte und Psychiater, "Augen auf, Kollegen"
und brandmarkte drohende "Übergriffe auf unsere Leistungsbereiche".
Die Mehrheit von 2060 niedergelassenen Ärzten plädierte im Sommer bei einer
Umfrage dafür, die Kassen sollten Psychotherapie zukünftig nur noch als
Wahlleistung gegen höhere Beiträge versichern. Auch die Startbedingungen
machen den Beruf nicht gerade attraktiver. Nach dem Studium ist eine
Therapieausbildung zu absolvieren, die einige zehntausend Mark aus der
eigenen Tasche kosten kann. Pflicht ist auch eine Art Lehrjahr, etwa in einer
Psychiatrie, während dessen oft kaum etwas bezahlt wird. So werde der
Berufsstand "in absehbarer Zeit extrem dezimiert", barmte der
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Geld würde dadurch nicht gespart. Denn unbehandelte
Psychoprobleme kommen die Gesellschaft extrem teuer. Für die USA werden
allein die Folgekosten des Alkoholmissbrauchs auf 250 Milliarden Dollar
jährlich geschätzt. Psychotherapie macht sich daher häufig schnell bezahlt.
Selbst Medikamente sind nicht unbedingt billiger. "Wenn man mit vier
Monaten Psychotherapie genauso viel erreicht wie mit anderthalb bis zwei
Jahren Dauermedikation, lohnt sie sich ab etwa einem Jahr, auch wenn sie am
Anfang teuer ist", argumentiert der Depressionsexperte Steven Hollon von
der Universität Vanderbilt. Laut den Therapieforschern Claudia Baltensperger und
Klaus Grawe von der Universität Bern führt eine angemessene psychologische
Behandlung in der Folgezeit zu 54 Prozent weniger Krankenhauskosten und 26
Prozent niedrigeren Arztrechnungen, so ihre kürzlich veröffentlichte
Auswertung von 124 Studien mit 80 000 Patienten. Solche Erfolge sind freilich nur zu erwarten, wenn
der Patient mit einer bei seinem Problem wirksamen Methode behandelt wird.
Bislang wird die Frage nach deren Wahl vom typischen Psychotherapeuten
allerdings "damit beantwortet, welche er gelernt hat", kritisiert
der Baseler Professor Jürgen Margraf, einer der beiden Vorsitzenden des
Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie. Der gutachtet, welche Verfahren
wissenschaftlich anerkannt sind, wie vom Psychotherapeutengesetz verlangt. Wichtig ist dieser Segen vor allem für neue
Methoden. Die schon vorher von den Kassen bezahlten Verfahren werden ohnehin
weiter anstandslos finanziert. Allerdings hat der Beirat ihre Vertreter aufgefordert,
sich doch freiwillig überprüfen zu lassen. Während die mit einer Vielzahl
solider wissenschaftlicher Studien bewaffneten Verhaltenstherapeuten sogleich
ja sagten, werden die Psychoanalytiker und Tiefenpsychologen sich diesen
Schritt gut überlegen. Vor allem die Anhänger der von Freud begründeten
Langzeitanalyse tun sich schwer mit Erfolgsnachweisen. Der jüngste Versuch
ihres Verbandes wurde selbst im Analytiker-Blatt Psyche arg gerupft.
Trotzdem investieren die Kassen immer noch ein Viertel ihres
Psychotherapie-Etats in die ungeprüfte und Jahre dauernde klassische Analyse.
Dabei könnte für dasselbe Geld ein Mehrfaches an nachweislich wirksamen
Kurztherapien finanziert werden. Doch Änderungen zeichnen sich ab. "Die
analytische Therapie steht schon auf dem Prüfstand", sagt Paul Lubecki,
beim AOK-Bundesverband für Psychotherapie und Qualitätssicherung zuständig.
Ihn ärgert vor allem, dass die Therapeuten einmal genehmigte Kontingente von
bis zu 300 Stunden fast immer ausschöpfen - der Patient gesundet frühestens,
wenn das Geld zur Neige geht. "Das ist ja abstrus", schimpft
Lubecki. Die ersten Verbandsoberen stellen sich bereits auf
bessere Kontrollen ein. "Bei der Wirtschaftlichkeit wird in Zukunft
härter geprüft werden", glaubt Hans-Jochen Weidhaas von der Vereinigung
der Kassenpsychotherapeuten, "ich und mein Verband haben da auch gar
nichts dagegen." Der Deutsche Psychotherapeutenverband präsentiert
bereits eigene Vorschläge: So sollen die Therapeuten in Qualitätszirkeln
gegenseitig ihre Arbeit überprüfen. "Ehe wir uns etwas überstülpen
lassen, setzen wir uns lieber an die Spitze", erläutert Präsidentin
Flamm. Dadurch wird der lange als Modephänomen verspottete
Psychoboom an Schwung kaum einbüßen. Schließlich hat die Branche eine Menge
für sich: Die Globalisierung kann ihr nichts anhaben, in Krisenzeiten steigt
die Nachfrage eher noch. Sie beschäftigt viele Frauen, Teilzeitarbeit ist
kein Problem. Die Umwelt bleibt sauber, und der Gewinn an Lebensfreude ist
allemal höher, als wenn das Geld in noch PS-stärkere Autos umgesetzt würde.
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