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Kranke Seelen brauchen Hilfe
 Zukunftsmarkt Psychotherapie
von Jochen Paulus
(Zeit 13.12.2001)

Solche Befunde mochte das Saarländische Ärzteblatt dann doch lieber nicht veröffentlichen - auf Druck der Kassenärztlichen Vereinigung sei die ursprüngliche Zusage zurückgezogen worden, klagt Professor Siegfried Zepf. Der an den Universitätskliniken des Saarlands tätige Mediziner hatte vorletzten Frühling gar zu unangenehme Daten erhoben, die erst dieses Jahr schließlich in einer Fachzeitschrift erschienen. Danach wird im Saarland jeder Zweite weggeschickt, wenn er bei einem Psychotherapeuten Hilfe sucht - die Wartelisten sind zu lang.

Noch peinlicher: Während schon Privatpatienten und bei Ersatzkassen Versicherte dreieinhalb Monate auf einen Therapieplatz warten mussten, kamen AOK-Patienten sogar erst nach der doppelten Zeit dran. Denn die gesetzlichen Kassen zahlten besonders mickrige Stundensätze, und schon in einer früheren Befragung hatte jeder zweite Helfer zugegeben, sich davon bei der Patientenauswahl leiten zu lassen. Schlussendlich war nicht einmal jeder dritte Patient bei einer gesetzlichen Kasse versichert, obwohl fast die Hälfte der Bevölkerung dort ihre Beiträge zahlt.

Saarland ist überall: Wer Psychotherapie braucht, bekommt sie in Deutschland meist noch immer nicht. Dabei ist der Psychoboom der vergangenen Jahrzehnte bereits sprichwörtlich. Schon 1995 konnten die Psychotherapeuten auf eine Verfünfzehnfachung ihrer Behandlungen seit 1980 zurückblicken. Auch in jüngerer Zeit schafften die Psychologen jährliche Umsatzsteigerungen von zehn Prozent und mehr. Vor allem in Unistädten, wo sich die frisch ausgebildeten Therapeuten am liebsten gleich niederlassen, wirken sie inzwischen viel zahlreicher, als die Bedarfsplanung vorsieht. Doch anderswo herrscht Mangel. Noch immer werden weit mehr Seelenkundler benötigt, als vorhanden sind. In ganz Sachsen-Anhalt kümmern sich weniger Therapeuten um gramgeplagte Bürger, als allein in Heidelberg sitzen - rechnerisch ist jeder für 18 000 Einwohner zuständig. Die Kinder und Jugendlichen des Ostlandes versorgt eine einzige Fachkraft.

Minderjährige werden allerdings auch anderswo besonders vernachlässigt. Selbst im Therapeuten-Mekka München wird nur jedes fünfte Problemkind halbwegs angemessen behandelt, ermittelte das ortsansässige Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Nicht besser ergeht es den Alten. Die Zahl der gerontopsychiatrischen Zentren und Ambulanzen bewertet der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen mit "ungenügend". Aber auch wer nicht besonders jung oder alt ist, wird eher selten richtig behandelt. Neun Millionen Deutsche trinken nach Berechnung des Münchner Instituts für Therapieforschung gefährlich viel. 2,7 Millionen missbrauchen Alkohol, und 1,6 Millionen sind abhängig. In Behandlung befinden sich jedoch gerade mal 170 000 - nur jeder Neunte des harten Kerns.

Von den vier Millionen depressiven Deutschen wiederum "erhalten derzeit nur etwa 10 Prozent aller Betroffenen eine Therapie, die dem Stand der Forschung entspricht", beklagt Professor Ulrich Hegerl vom Kompetenznetz Depression. Und wer gar an einer somatoformen Störung leidet, bei der sich psychische Probleme in körperlichen Symptomen äußern, wird vom Hausarzt erst recht nicht zu einem Spezialisten geschickt, sondern meist vergeblich medizinisch behandelt.

Unerkannte Probleme sind teuer

Wirtschaftlich betrachtet warten also riesige Marktlücken auf Psychotherapeuten, selbst bei geringeren Psychostörungen könnte ihr Einsatz zudem längerfristig kostensparend wirken. Schlichte Einschlafprobleme beispielsweise, die viele alte Leute zu guten Kunden der Pharmaindustrie machen, lassen sich besser mit einer kurzen Psychotherapie behandeln, ergab vor zwei Jahren eine kanadische Studie.

Zu tun gibt es somit genug, doch die für die Honorare zuständigen kassenärztlichen Vereinigungen zahlen nur ungern an Seelenkundler. Bei einem internationalen Vergleich vor zwei Jahren lagen die deutschen Sätze hinter Spanien und Südafrika auf dem elften Platz. Für die Therapiestunde gab es gerade mal 80 Mark. Das Bundessozialgericht erhöhte den mickrigen Lohn vor kurzem für die sechs Jahre vor 1999 rückwirkend auf 145 Mark, weshalb sich die Therapeuten nun einige hundert Millionen Mark Nachzahlungen teilen dürfen.

Für die Zukunft könnten sich die kassenärztlichen Vereinigungen allerdings wieder neue Begründungen fürs Kürzen einfallen lassen. "Ich bin ganz sicher, dass uns jetzt andere Rechenkunststücke präsentiert werden", schwant Karin Flamm, Präsidentin des Deutschen Psychotherapeutenverbands.

An Geiz mangelt es jedenfalls nicht. Schon jetzt gibt es für die ebenfalls einstündigen Probesitzungen vor der eigentlichen Therapie oft unter hundert Mark, sofern die gesetzliche Krankenversicherung zahlen muss. In Sachsen werden sage und schreibe 3,92 Mark überwiesen. Billiger kommt das allerdings nicht unbedingt: Viele Behandler fangen dann eben gleich mit der eigentlichen Therapie an. Der Kampf ums Geld im medizinischen Komplex ist hart, und die erst Anfang 1999 mit dem Psychotherapeutengesetz offiziell in den Heilerstand Erhobenen fürchten Sabotage der Alteingesessenen. Schon tönte der Neurotransmitter, Verbandsorgan der Nervenärzte und Psychiater, "Augen auf, Kollegen" und brandmarkte drohende "Übergriffe auf unsere Leistungsbereiche". Die Mehrheit von 2060 niedergelassenen Ärzten plädierte im Sommer bei einer Umfrage dafür, die Kassen sollten Psychotherapie zukünftig nur noch als Wahlleistung gegen höhere Beiträge versichern. Auch die Startbedingungen machen den Beruf nicht gerade attraktiver. Nach dem Studium ist eine Therapieausbildung zu absolvieren, die einige zehntausend Mark aus der eigenen Tasche kosten kann. Pflicht ist auch eine Art Lehrjahr, etwa in einer Psychiatrie, während dessen oft kaum etwas bezahlt wird. So werde der Berufsstand "in absehbarer Zeit extrem dezimiert", barmte der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen.

Geld würde dadurch nicht gespart. Denn unbehandelte Psychoprobleme kommen die Gesellschaft extrem teuer. Für die USA werden allein die Folgekosten des Alkoholmissbrauchs auf 250 Milliarden Dollar jährlich geschätzt. Psychotherapie macht sich daher häufig schnell bezahlt. Selbst Medikamente sind nicht unbedingt billiger. "Wenn man mit vier Monaten Psychotherapie genauso viel erreicht wie mit anderthalb bis zwei Jahren Dauermedikation, lohnt sie sich ab etwa einem Jahr, auch wenn sie am Anfang teuer ist", argumentiert der Depressionsexperte Steven Hollon von der Universität Vanderbilt.

Laut den Therapieforschern Claudia Baltensperger und Klaus Grawe von der Universität Bern führt eine angemessene psychologische Behandlung in der Folgezeit zu 54 Prozent weniger Krankenhauskosten und 26 Prozent niedrigeren Arztrechnungen, so ihre kürzlich veröffentlichte Auswertung von 124 Studien mit 80 000 Patienten.

Solche Erfolge sind freilich nur zu erwarten, wenn der Patient mit einer bei seinem Problem wirksamen Methode behandelt wird. Bislang wird die Frage nach deren Wahl vom typischen Psychotherapeuten allerdings "damit beantwortet, welche er gelernt hat", kritisiert der Baseler Professor Jürgen Margraf, einer der beiden Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie. Der gutachtet, welche Verfahren wissenschaftlich anerkannt sind, wie vom Psychotherapeutengesetz verlangt.

Wichtig ist dieser Segen vor allem für neue Methoden. Die schon vorher von den Kassen bezahlten Verfahren werden ohnehin weiter anstandslos finanziert. Allerdings hat der Beirat ihre Vertreter aufgefordert, sich doch freiwillig überprüfen zu lassen. Während die mit einer Vielzahl solider wissenschaftlicher Studien bewaffneten Verhaltenstherapeuten sogleich ja sagten, werden die Psychoanalytiker und Tiefenpsychologen sich diesen Schritt gut überlegen.

Vor allem die Anhänger der von Freud begründeten Langzeitanalyse tun sich schwer mit Erfolgsnachweisen. Der jüngste Versuch ihres Verbandes wurde selbst im Analytiker-Blatt Psyche arg gerupft. Trotzdem investieren die Kassen immer noch ein Viertel ihres Psychotherapie-Etats in die ungeprüfte und Jahre dauernde klassische Analyse. Dabei könnte für dasselbe Geld ein Mehrfaches an nachweislich wirksamen Kurztherapien finanziert werden.

Doch Änderungen zeichnen sich ab. "Die analytische Therapie steht schon auf dem Prüfstand", sagt Paul Lubecki, beim AOK-Bundesverband für Psychotherapie und Qualitätssicherung zuständig. Ihn ärgert vor allem, dass die Therapeuten einmal genehmigte Kontingente von bis zu 300 Stunden fast immer ausschöpfen - der Patient gesundet frühestens, wenn das Geld zur Neige geht. "Das ist ja abstrus", schimpft Lubecki.

Die ersten Verbandsoberen stellen sich bereits auf bessere Kontrollen ein. "Bei der Wirtschaftlichkeit wird in Zukunft härter geprüft werden", glaubt Hans-Jochen Weidhaas von der Vereinigung der Kassenpsychotherapeuten, "ich und mein Verband haben da auch gar nichts dagegen." Der Deutsche Psychotherapeutenverband präsentiert bereits eigene Vorschläge: So sollen die Therapeuten in Qualitätszirkeln gegenseitig ihre Arbeit überprüfen. "Ehe wir uns etwas überstülpen lassen, setzen wir uns lieber an die Spitze", erläutert Präsidentin Flamm.

Dadurch wird der lange als Modephänomen verspottete Psychoboom an Schwung kaum einbüßen. Schließlich hat die Branche eine Menge für sich: Die Globalisierung kann ihr nichts anhaben, in Krisenzeiten steigt die Nachfrage eher noch. Sie beschäftigt viele Frauen, Teilzeitarbeit ist kein Problem. Die Umwelt bleibt sauber, und der Gewinn an Lebensfreude ist allemal höher, als wenn das Geld in noch PS-stärkere Autos umgesetzt würde.

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