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Lernrezepte aus dem Hirnlabor von Jochen Paulus |
Mithilfe
der Neurobiologie wollen Wissenschaftler die Pädagogik revolutionieren. Die
Beweise für ihre Thesen sind dürftig
Neurobiologisch betrachtet, war die Sache eindeutig. Die
fraglichen Gehirne waren leichter, und entscheidende Windungen im Stirn- und
Scheitellappen wirkten schlecht entwickelt. Also befand Paul Julius Möbius:
Frauen seien geistig ein „Mittelding zwischen Kind und Mann“. Der Philosoph
und Mediziner schrieb im Jahr 1900 eine Abhandlung Ueber den
physiologischen Schwachsinn des Weibes . Das Buch wurde ein
Bestseller, untermauerte es endlich mit Erkenntnissen der Hirnforschung, was
zahlreiche Leser gerne glaubten. Der einst angesehene Gelehrte freilich
avancierte zum Gespött der Nachgeborenen. Seinen Fehler könnte man den
Möbius-Irrtum nennen: aus nicht recht verstandenen Ergebnissen der Hirnforschung
gewagte Schlussfolgerungen ableiten. Heute ist, neurobiologisch gesehen, klar, wie Kinder zu unterrichten wären. Zum einen möglichst früh, solange sich die Nervenzellen noch entwickeln; zum anderen soll das Lernen Freude bereiten, weil das Gehirn nur dann ordentliche Mengen der dafür nötigen Botenstoffe ausschüttet. So verkünden es angesehene Hirnforscher. Und die unter Pisa-Schock stehenden Deutschen greifen die Botschaft der „Neurodidaktik“ begierig auf. Endlich nehmen richtige Forscher – statt Pädagogen – die Sache in die Hand! Experten, die sich sonst Themen wie etwa der „Periodizitätskodierung im auditiven Kortex“ widmen, erklären uns jetzt, wie Didaktik funktioniert. Da kann die tapferen Neurodidaktiker kaum schrecken, dass der erste Versuch weitgehend gescheitert ist, die Kinderbetreuung mithilfe der Neurobiologie zu revolutionieren. Vor allem in den USA hämmerten offiziöse Reporte wie populäre Ratgeber den Eltern ein, die Gehirne der Ein- bis Dreijährigen mit möglichst vielen Anregungen zu versorgen. Ansonsten drohe eine „mentale Wüstenei“, wie ein amerikanischer Autor warnte. Deutsche Erziehungsberechtigte dürfen sich mitgruseln. So propagiert das vor zwei Jahren erschienene Buch Baby Brain auch hierzulande Parolen wie „Synapsenpflege“, „Jetzt oder nie!“ und „Die Zukunft Ihres Babys liegt in Ihren Händen“. Praktisch heißt das: „Singen Sie Ihrem Baby ein neues Lied vor, entsteht eine neuronale Verknüpfung. Kitzeln Sie seine Zehen, und Sie haben wieder eine neue.“ Vor allem aber: „Bleiben Sie ganz entspannt.“ Letzteres ist der beste Tipp, denn so entscheidend sind die ersten drei Jahre auch wieder nicht. „Wir haben den Mythos ,Geburt bis drei‘ beerdigt“, fasste US-Kinderpsychologe Mike Posner bereits im Juni 2000 die Ergebnisse einer hochkarätig besetzten OECD-Konferenz zusammen. Macht nichts. Dann sind es eben die ersten sechs Jahre, „die unsere Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung weitgehend festlegen“. Denn in diese Zeit fallen „besonders dramatische Ereignisse in der Hirnentwicklung“, wie die Verhaltensbiologin Katharina Braun von der Universität Magdeburg und ihr in Zeitungsartikeln allgegenwärtiger Professorenkollege Henning Scheich verkünden. Vielleicht kommt es aber auch auf die ersten 15 Lebensjahre an, wie der emeritierte Freiburger Mathematikdidaktiker Gerhard Preiß und sein Mitstreiter Gerhard Friedrich glauben. Denn „die Bahnen, in denen der Erwachsene später denkt, sind zumindest grob vorgegeben“, wenn die Gehirnreifung am Ende der Jugend erst einmal abgeschlossen sei, schreibt das Duo in einem Aufsatz. Außer Frage steht, dass es in den vergangenen Jahren eine Vielzahl neuer Erkenntnisse über das frühkindliche Lernen gegeben hat (ZEIT Nr. 48/02). So konnte beispielsweise die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin zeigen, dass Kinder im Grundschulalter über weit mehr Fähigkeiten verfügen, als ihnen der deutsche Lehrplan zutraut. Schon Vierjährige sollen in Zukunft mit naturwissenschaftlichen Experimenten und Sprachspielen zum Denken gebracht werden. So sehen es neue Curricula für Kindergärten vor. Die neue Frühförderung ist jedoch das Ergebnis klug angelegter pädagogischer Studien – nicht etwa neurobiologischen Fachwissens. Der Versuch, aus der Hirnforschung Handreichungen zur Kindererziehung, gar eine eigene Neurodidaktik abzuleiten, ist im besten Falle kühn, im schlimmsten Falle schädlich. Die Aussagen der Neurodidaktiker klingen so, als gäbe es eine kritische Altersgrenze für das Lernen, jenseits derer nichts mehr in den Kopf passt. Wo immer die jeweiligen neurodidaktischen Experten diese auch ansiedeln – in einem sind sich alle einig: „Die Volksweisheit ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr‘ besitzt ein neurobiologisches Fundament.“ So verkünden es beispielsweise Preiß und Friedrich. Leider ähneln viele Belege dieser These verflixt jenen der offiziell beerdigten Null-bis-drei-Bewegung und sind ebenso wackelig. So werden als Standard-Argument gerne Tierversuche über die kritische Phase beim Erlernen des Sehens herangezogen. Diese zeigen: Wird ein Auge nach der Geburt verschlossen und erst nach einer bestimmten Zeit wieder geöffnet, trägt es zum Sehen nichts mehr bei. Das Gehirn berücksichtigt nur noch die Informationen des anderen Auges. Doch daraus lässt sich mitnichten schließen, die allgemeine Entwicklung bestimmter Gehirnfunktionen sei nur innerhalb enger zeitlicher Grenzen möglich. Denn das gilt nicht einmal für das Sehen generell. Werden in derselben Zeit beide Augen verschlossen, passiert nichts. In entsprechenden Tierversuchen lernen Affen ganz normal sehen. Freilich fehlt bislang ein mutiger Neurodidaktiker, der daraus mit der branchenüblichen Freude an forschen Folgerungen ableitete, man könne Babys ruhig eine Zeit lang vernachlässigen – wenn man es nur umfassend tue. Auch beim Sprechenlernen verhält es sich mit der sensiblen Phase nicht so einfach, wie oft suggeriert wird. Zwar nimmt die Fähigkeit, sich grammatikalische Regeln einer Sprache anzueignen, bei Heranwachsenden allmählich ab. Doch nicht alle Menschen halten sich an das Dogma. Als etwa 1878 der Pole Jósef Korzeniowski 20-jährig nach England kam, sprach er nur ein paar Worte der Landessprache. Unter dem Namen Joseph Conrad wurde er einer ihrer Meister. Gleich ihm verblüffen etwa fünf Prozent der Zweisprachler die Wissenschaft, weil sie es noch als Erwachsene schaffen, sich die Grammatik der fremden Sprache wie Einheimische anzueignen. Und Vokabeln lernen klappt sogar in jedem Alter. Natürlich ist es sinnvoll, früh Englisch oder Französisch zu üben. Oder, wie der amerikanische Kinderpsychiater Harry Chugani sagt: „Welcher Trottel hat entschieden, dass Kinder fremde Sprachen erst in der High School lernen sollen?“ Doch das ist keine neue Erkenntnis der Hirnforschung. Es ergibt sich schlicht aus Beobachtungen und Studien darüber, wer wann was lernt oder eben nicht – angefangen mit Kaspar Hauser. Die Neurobiologen untermauern das Bekannte lediglich mit Befunden, was dabei im Gehirn vorgeht. So werden grammatische Informationen einer spät erlernten Sprache in anderen Gehirnregionen verarbeitet als üblich. Vokabeln machen sich dagegen in jedem Alter in denselben Zentren breit. Doch bis sich aus Gehirnaufnahmen vorhersagen lässt, wer das Zeug zu einem Joseph Conrad hat, dürfte es noch eine Weile dauern. Das hindert wackere Neurodidaktiker nicht daran, das spärliche Wissen über die sensiblen Phasen der Sprache wagemutig auf alles Mögliche zu übertragen – ein klassischer Möbius-Irrtum. Dabei werde „häufig unberechtigterweise auf eine generelle erhöhte Lernfähigkeit in der frühen Kindheit geschlossen“, klagt selbst die Frühförderungs-Verfechterin Elsbeth Stern. Nur manche Lernprozesse fallen in umgrenzten Abschnitten der Jugendzeit leichter – der amerikanische Lernforscher William Greenough nennt sie „erfahrungsheischend“ –, weil das Gehirn dann auf passenden Input wartet. Viele andere Lernprozesse klassifiziert er dagegen als „erfahrungsabhängig“ – sie finden statt, wann immer die entsprechenden Anregungen geboten werden. Darum existiert zum Beispiel keine kritische Phase für das Zubereiten von Sushi, wie der Autor John Bruer in seiner gerade als Taschenbuch erschienenen Kritik Der Mythos der ersten drei Jahre höhnt. Und ebenso wenig gibt es vermutlich eine kritische Zeit für das Erlernen der Rechenkunst, auch wenn Preiß und Gerhard das Gegenteil suggerieren. Die beiden versuchen, schon Vorschulkindern die Mathematik nahe zu bringen, indem sie die abstrakte Lehre veranschaulichen. Sie verteilen etwa Zahlen in der richtigen Reihenfolge im Klassenzimmer, wobei die Vier beispielsweise durch vier Bälle dargestellt wird. Offenbar lernen die Kleinen etwas dabei, und es macht ihnen sogar Spaß. Dergestalt mit der Unterweisung früh zu beginnen, mag sinnvoll sein, wenn deutsche Kinder in Zukunft zeitiger mit der Schule fertig sein sollen. Solche Erfolge beweisen jedoch nicht, dass es eine sensible Phase für Mathematik gibt. Als bei dem Bauernvolk der Oksampin in den Bergen von Neuguinea das Geld Einzug hielt und die Erwachsenen plötzlich Kopfrechnen mussten, erfanden sie spontan die gleichen Zählstrategien wie anderswo die kleinen Kinder. Mit Hirnforschung hat die Strategie von Preiß, der als Erster den Begriff Neurodidaktik prägte, ohnehin nicht viel zu tun. Sie geht zurück auf die „Methode der Orte“ – einen Gedächtnistrick zum Speichern abstrakter Informationen. Dieser stammt aus dem alten Griechenland, wo man das Gehirn für eine Vorrichtung zum Kühlen des Bluts hielt. Was bunte Bilder lehren Viele Forscher trauen der Neurodidaktik ohnehin weit weniger zu als die deutschen Vorkämpfer. Die OECD betreibt zwar ein einschlägiges Forschungsprojekt, betrachtet das Unternehmen aber als „Wagnis“. Ihre Experten beklagen, dass der Mangel an Forschungsergebnissen „unglücklicherweise nicht als Hindernis für diejenigen wirkt, die behaupten wollen, sie hätten eine ‚Gehirn-Basis‘ für ihre Meinungen, wie gelehrt und gelernt werden sollte“. Aus der Hirnforschung, so lästert der amerikanische Neurowissenschaftler Steve Petersen, lasse sich lediglich folgern: „Ziehen Sie Ihr Kind nicht in einem Schrank auf, lassen Sie es nicht verhungern, und schlagen Sie es nicht mit einer Bratpfanne auf den Kopf.“ Es ist eben schwierig, aus den bunten Bildern der Hirnforscher Rezepte für die Didaktik abzuleiten. Andererseits eröffnen sich dem Neurodidaktiker dadurch große Freiheiten, das herauszulesen, was er möchte. So reagiert bei Geigenspielern die für die Greiffinger zuständige Region im Kopf umso stärker, je früher die Musiker auf dem Instrument geübt haben, wie Konstanzer Forscher herausfanden. Gängige Schlussfolgerung: Musikalische Unterweisung muss beizeiten beginnen. Doch mit Musik hat das Ganze wenig zu tun. Jahrelanges Zerren am Joystick hätte wahrscheinlich ähnliche Auswirkungen gezeitigt. Nur wären entsprechende Ergebnisse wohl „als neurowissenschaftlicher Beweis dafür interpretiert worden, dass Computerspiele sich schädlich auf die Hirnentwicklung auswirken“, höhnt Bruer. Macht der Lernschock Spaß? Viel Spielraum bei der Deutung von Experimenten herrscht auch, wenn es um die Frage geht, welche Rolle gute Stimmung beim Lernen spielt. Besonders publikumswirksam haben der Magdeburger Physiologieprofessor Scheich und seine Wüstenrennmäuse das Thema besetzt. Die Mäuse müssen lernen, auf ein Signal hin zu hüpfen, weil sie sonst einen elektrischen Schlag bekommen. Bei einem anderen Signal müssen sie bei Strafe eines Schlags sitzen bleiben. Während die Nager ihre Lektion verinnerlichen, bildet ihr Gehirn verstärkt Dopamin. Dieser Stoff hat im Nervensystem viele Aufgaben, aber hier „könnte“ er als hirneigene Belohnung fungieren, schreibt Scheichs Team in einem Fachblatt. So genau weiß tatsächlich niemand, ob die Tiere bei dem Schockversuch dasselbe intellektuelle Vergnügen empfinden wie die Forscher. Aber in Zeitungsinterviews verkündet Scheich, dass erfolgreiches Lernen genau über solche Belohnungen funktioniert – natürlich auch bei Schülern. Deshalb sei der Unterricht bitte entsprechend umzukrempeln. Würde eine Pharmafirma aufgrund eines Tierversuchs und einer vagen Theorie ein Medikament auf den Markt bringen, käme sofort der Staatsanwalt. In der Bildungsdiskussion, wo jeder ungeprüfte Rezepte propagieren darf, bringt man es so schnell zum gefragten Experten.Scheich weiß aber noch mehr. „Auf keinen Fall ist es so, dass man Menschen nur mit Lob und Spaßerlebnissen dazu bringt, dauerhaft etwas zu lernen“, verlautbarte er in der Apotheken Umschau. (Wenn sie ihre großen Ideen verkünden, dann meiden Neurodidaktiker gern Fachzeitschriften samt deren kritischen Gutachtern.) Denn ohne gelegentliche Herausforderungen in Form von Schocks lässt bei den Mäusen die Dopaminproduktion nach. Leichter Stress fördert das Lernen. So spricht die Neurobiologie. Es sei denn, man liest die Neurodidaktik bei Manfred Spitzer nach. Denn der Ulmer Psychiatrieprofessor kann in seinem Buch Lernen angeblich zeigen, dass „Lernen bei guter Laune am besten funktioniert“ und Stress „ungünstig“ sei. Es kommt eben immer darauf an, was für ein Experiment einer gerade gemacht hat. Da wäre es interessant, in der Schule mal nachzuschauen, ob Schüler fröhlich oder leicht gestresst besser lernen. Die Bielefelder Pädagogin Jutta Standop suchte für ihre Dissertation gründlich nach entsprechenden Studien. Sie fand keine einzige. Zur Strafe für solche Versäumnisse müssen die Pädagogen sich nun die Belehrungen der Neurodidaktiker anhören. Besonders Spitzer geht dabei kühn zu Werke. Nach der Devise Vom Frontalhirn zur Grundgesetzänderung (Kapitelüberschrift) will der ärztliche Direktor den in der Verfassung vorgesehenen Religionsunterricht abschaffen. Denn nach Spitzers Interpretation sind die für Moraldiskussionen nötigen Hirnbereiche erst in der Oberstufe ausgereift. Und bei der Pädagogenausbildung dürften laut Spitzer nicht „irgendwelche Tricks zur ‘Vermittlung’ von ‘Stoff’“ im Mittelpunkt stehen. Hauptsache, die Lehrer beherrschten ihr Fach und seien davon begeistert. Denn die Person des Paukers sei das „stärkste Medium“. Belegen soll das eine Hirnbild-Studie, der zufolge das Belohnungssystem im Kopf anspringt, wenn einem eine attraktive Person einen Blick zuwirft. Daraus schließt Spitzer: Schüler werden vom Blick des Lehrers motiviert, denn der ist attraktiv, weil er begeistert ist, was wiederum daher kommt, dass er sein Fach liebt. Solch kühne Deutungen eines neurobiologischen Befunds erinnern fatal an die Logik des verlachten Paul Möbius.
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