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Therapeuten als Stars |
Während sich der riesige Saal füllt, sitzt er allein im Scheinwerferlicht auf der Bühne. Ein schlacksiger alter Mann im weißblau karierten Hemd, im Gesicht die Brille Marke Kassengestell, die verbliebenen halblangen grauen Haare nach hinten gekämmt: Das ist Albert Ellis. Exakt zur vorgesehenen Zeit legt der seit Jahrzehnten Starruhm genießende Therapeut los. Mit seiner unverwechselbaren Krächzstimme spult er die Kernsätze der Lehre ab, die ihn berühmt gemacht hat: Rational-Emotive Therapie, kurz RET. Falls irgend jemand im nach Tausenden zählenden Publikum sie noch nicht kennt, wird er sie gleich live erleben. Vor aller Augen will Ellis in der Massenveranstaltung therapieren, Freiwillige mit Problemen bitte vor. Ellis braucht "einige von Euch glücklichen Seelen, die geheilt werden wollen". Aus dem überwiegend aus Psychologen und Medizinern bestehenden Publikum erklimmt eine blonde Frau die Bühne. Sie bringt offensichtlich die Lieblingseigenschaften aller Therapeuten mit, die nach ihren Anfangsbuchstaben im Englischen gern mit JAVIS abgekürzt werden: jung, attraktiv, verbal, intelligent, erfolgreich. Doch sie hat ein Problem: Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie weiter in Deutschland leben oder zurück in die Türkei gehen will. Ellis ist die Ursache sofort klar: "Ich weiß bereits, was es ist, aber wir werden sehen, ob Sie es auch herausfinden." Im Kreuzfeuer der Fragen von Ellis braucht die gelehrige Klientin nicht lange: Sie hat Angst sich falsch zu entscheiden, worauf sie sich dumm und unglücklich fühlen würde. Quatsch, attackiert Ellis, "sogar ich mache Fehler, das ist nicht das Ende der Welt". Mit in die Luft stechendem Zeigefinger bringt er ihr seine Botschaft nahe: In Wirklichkeit sind die eigenen Gedanken an ihrem Problem schuld, nicht etwa unveränderbare Tatsachen. Nach einer kurzen Übung wird sie entlassen. Das Ganze hat eine Viertelstunde gedauert. In diesem Rhythmus verarztet Ellis noch zwei weitere Freiwillige. Diagnose und Heilung: siehe oben. That's entertainment. Rauschender Beifall der versammelten Fachwelt. Wegen solcher Auftritte von Berühmtheiten kamen 5000 Ärzte und Psychologen vergangene Woche nach Hamburg zum größten Psychotherapie-Kongreß, den es je in Europa gab. Gut zwei Dutzend der bekanntesten Seelenkundigen der Welt wurden bei Evolution of Psychotherapy aufgeboten, darunter viele Gründer von Therapieschulen. "Keine andere Fachkonferenz kann auf eine derart hochkarätige Referentenliste blicken", gaben die Veranstalter vollmundig bekannt, und obwohl sie im gleichen Werbetext sogar den Namen Sigmund Freuds falsch schrieben, ist das die reine Wahrheit. Das Durchschnittsalter der Referenten liegt bei über 70. "Leute wie ich verderben den Schnitt", witzelt ein 51jähriger. Überall sind lebende Legenden zu bestaunen. Hier erzählt der große Sexualforscher William Masters, welche Tricks er seinerzeit von Prostituierten lernte. Dort führt der berühmte Familientherapeut Salvador Minuchin ein Video seiner Arbeit vor: Man wird Zeuge, wie er sich in einer "nicht besonders intelligenten Intervention" mit einem laut gebrüllten "Stop it" Respekt bei der zur Therapie erschienenen Familie und ihrem lauten Kind verschafft. Die Organisatoren hofften zuversichtlich, alle Versammelten würden nicht nur mit Vertretern ihrer eigenen Richtung reden, sondern voneinander lernen. Daß das klappen würde, durfte spätestens ab dem Moment bezweifelt werden, in dem Ellis die Lieblingsidee des verstorbenen Kollegen Carl Rogers für "idiotisch" erklärte. Zusätzlichen Zündstoff lieferte die vor kurzem erschienene Monumentalstudie Psychotherapie im Wandel, in der Professor Klaus Grawe von der Universität Bern Hunderte von Untersuchungen zu den Erfolgen der verschiedenen Therapierichtungen auswertete. Früher war das Ergebnis derartiger Hitlisten à la Alice im Wunderland ausgefallen: Alle haben gewonnen und müssen Preise bekommen. Grawe dagegen kam zu dem Schluß, daß die Wirksamkeit vieler Therapieformen völlig ungeklärt ist und auch die Untersuchung etablierter Verfahren wie der Psychoanalyse viele Wünschen offenläßt. Sieger nach Punkten wurden die kognitiven Verhaltenstherapien. Sie versuchen, Verhalten und Denken ihrer Klienten mithilfe von wissenschaftlich abgesicherten Techniken zu ändern. Bei Ängsten etwa reden sie nicht lange über mögliche Ursachen in der Kindheit, sondern üben, die Angst auszuhalten und so zu überwinden. Seine Studie trug Grawe Aggressionen von Kollegen ein, wie er auf dem Kongreß berichtet. Dorthin wurde er überhaupt nur eingeladen, weil er in einem Brief an die Veranstalter die ursprüngliche Rednerliste kritisiert hatte, auf der Therapieforscher nicht vorkamen. Doch die meisten Besucher ignorieren die Diskussion ihrer Ergebnisse schlicht, die Veranstaltungen sind weit schlechter besucht als die Auftritte der Stars. Dabei steht einiges auf dem Spiel. In den USA müssen Therapieschulen bereits zunehmend ihre Effizienz beweisen, wenn die Behandlung von Versicherungen finanziert werden soll, wie Donald Meichenbaum beifällig berichtet. Der Vordenker der kognitiven Behandlungsmethoden ist ein scharfer Kritiker des bisherigen Zustands: "Fast alles kann Psychotherapie genannt werden", es komme nur auf die Kreativität des Erfinders an, schimpft er. Doch "das Ausmaß der Begeisterung ist umgekehrt proportional zur Menge der Forschungsergebnisse", spottet der Professor aus Kanada mit Blick auf das Aufgebot des Kongresses. "Ich möchte, daß Sie diese Veranstaltung als kritische Konsumenten verlassen." Da sehen sich viele doch lieber Referenten wie Ernest Rossi an. Der Hypnosetherapeut präsentiert seine neuesten Ideen, wissenschaftlich garantiert unüberprüft, doch zweifellos wegweisend für die "neue Psychologie der Zukunft". Rossi nahm alte Militärstudien zur Frage, in welchen Tagesphasen etwa Piloten die meisten Fehler machen. Die rührte er zusammen mit Beobachtungen, wann Klienten in Trance geraten. So entdeckte er, daß "wir alle anderthalb Stunden einen kreativen Zyklus durchlaufen". Den soll seine neue Kur nutzen, denn alle anderen Therapien "gehen an der Essenz der Heilung vorbei". Wie die anschließende Massen-Tranceinduktion im Audimax der Universität mit dem Zyklus zusammenhängt, wird nicht ganz klar, doch ist es eine eindrucksvolle Veranstaltung, nicht zuletzt dank Rossis cooler Umdeutung der Pannen. Er beginnt mit der altbewährten Suggestion, die ausgestreckten Hände seiner Zuhörer würden magnetisch zueinander gezogen. Dann darf sich jeder von seinen Händen eine persönliche Frage beantworten lassen: Sinkt eine Hand nach unten, bedeutet das "ja". Das klappt bei den meisten. Nach der Demonstration beklagt sich eine Zuhörerin über Gefühle von Schmerz, Ärger, Ekel, Angst und "eine schwarze Schachtel auf der Zunge" während der Hypnose. Rossi souverän: "Du begegnest dem Unbekannten, und das ist der Anfang der Weisheit". Keiner der Weltreisenden in Sachen Psychotherapie läßt sich leicht aus dem Konzept bringen. Sie sind heute in Hamburg, morgen in St. Petersburg und für das kommende Jahr auch schon ausgebucht. Therapie wird bei solchen Veranstaltungen nicht praktiziert. Hier darf der geplagte Praktiker von der Beratungsstelle nebenan besichtigen, was Therapie sein könnte, wenn die eigenen Klienten nicht so hartnäckig an ihren Problemen festhielten. Aber vielleicht hilft es ja, den Großmagiern beim Zaubern zuzusehen. Ihre Bilanz kann oft keiner nachprüfen. Haben sie keine Erfolgsstatistiken, argumentieren sie, Therapie sei schließlich keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Zweifellos ist sie das auch, und wer hier auftritt, ist ein begnadeter Künstler. Viktor Frankl nimmt in dieser Galerie alter Meister einen Ehrenplatz ein. Er hält den Festvortrag mit dem Titel "Auf dem Weg zu einer Psychotherapie mit menschlichem Antlitz". Damit meint er seine bereits 1928 erfundene Logotherapie. Längst hat er Millionen Bücher über sie verkauft. Noch immer reißt der 89jährige das Publikum zu Beifallsstürmen hin, wenn er leidenschaftlich in den Saal ruft, daß das Leben einen Sinn hat, immer und unbedingt, selbst auf dem Weg zur Todeszelle. Der Mann, der Hitlers Konzentrationslager überlebt hat, beeindruckt. Seine Argumente werden hingegen großzügig überhört. Daß das Drogenproblem heute geringer wäre, wenn die Universität Harvard seinerzeit den LSD-Propheten Timothy Leary gefeuert hätte, glaubt im ganzen Saal außer Frankl wohl kaum jemand. Auch sein Ausfall gegen die angeblich nihilistische moderne Kunst verhallt. Schwerer als die Propheten haben es die Wissenschaftler. Ihnen fehlt die erleuchtende Klarheit, die eine einzige große Idee bietet. Während Frankl lehrt, daß seelische Gesundheit denen zuteil wird, die in ihrem Leben einen Sinn sehen, kompliziert Donald Meichenbaum das Bild mit Untersuchungsergebnissen: Lange Jahre nach einem traumatischen Ereignis geht es in der Tat den Opfern schlecht, die immer noch nach einem Sinn in dem Geschehenen suchen. Diejenigen, die ihn gefunden haben, sind besser dran - aber auch jene, die die Suche aufgegeben haben. Wie viele Referenten hat auch Meichenbaum Videobänder dabei, auf denen er gelungene Therapien mit echten Klienten vorführt. Nachdem er gezeigt hat, wie erfolgreich er eine Technik bei einer an Panikattacken leidenden Krankenschwester eingesetzt hat, demonstriert er die gleiche Technik noch einmal am Fall einer Frau, deren Verlobter vor ihren Augen von einem Zug überfahren wurde. Doch er sagt schon vorher: "Hier funktioniert sie überhaupt nicht, ich will nicht, daß Sie enthusiastisch werden." Obwohl die der Wissenschaft verpflichteten Referenten um solche Komplikationen nicht herum kommen, schlagen sie sich wacker. Die Statistiken, vor denen schon den meisten Psychologiestudenten graut, haben sie zuhause gelassen. Nur gelegentlich fließen ein paar Literaturangaben in die Rede. Der Rest ist Didaktik der Effekte. Meichenbaum könnte sich seine Flugtickets jederzeit als Komödiant verdienen. Um seine Botschaft zu illustrieren, daß es immer darauf ankommt, wie man eine Situation interpretiert, erzählt er eine lange Geschichte, in der es um seine drei Mülltonnen, seine vier Kinder und eine Seance mit diesen Beteiligten geht. Der Forscher ist pausenlos in Bewegung, wenn die Übersetzerin bei seinem Sprechtempo nicht mitkommt, feuert er sie (an). "Eigentlich bin ich manisch-depressiv, aber für Depressionen habe ich nie Zeit". So agiert Podiums- Meichenbaum. Therapie-Meichenbaum ist ganz anders: Ein zurückhaltender Zuhörer, der schüchtern, fast linkisch Fragen stellt. Podiums-Meichenbaum nennt das nach dem scheinbar schusseligen Fernsehinspektor "meinen besten Columbo-Stil". An seinem Verhaltenstherapie-Kollegen Arnold Lazarus ist ein brillanter Talkmaster verloren gegangen. Für jede Frage aus dem Publikum hält der distinguished Professor der Rutgers-Universität witzige Anekdoten bereit. Als er Schwierigkeiten mit einem neuen Klienten hatte, weil der ihn an einen Kollegen erinnerte, den er aus gutem Grund nicht leiden konnte, überwies er ihn - zu diesem Kollegen. Die beiden kamen gut miteinander klar. Ganz im Sinne des ansonsten meist mißachteten Wunsches der Kongreßveranstalter brach Lazarus eine Lanze dafür, die Therapeuten der verschiedenen Schulen sollten voneinander lernen und nicht nur ihre eigene Wahrheit gelten lassen. Das ist Lazarus' Wahrheit, die er seit langem als Multimodale Therapie vertritt. Wahrscheinlich wird auch in Zukunft lieber jeder sein eigener Guru bleiben. Die Vorteile zeigen sich bei einem solchen Kongreß - es war toll. Jede Menge Stars bewundert, ein Autogramm von Paul Watzlawick ergattert, Helm Stierlin ein Problem aus der eigenen Praxis erzählt, sich mit Jeff Zeig fotografieren gelassen. Wahrscheinlich haben die Meister nicht viel gesagt, was sich nicht auch in Büchern lesen ließe. Aber geht irgend jemand zu einer Veranstaltung mit Udo Jürgens, Helmut Kohl oder Thomas Gottschalk um Neues zu erfahren? Der Mann (in drei Ausnahmefällen: die Frau) ist die Botschaft. |