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Üben statt Schlucken
von Jochen Paulus
(Wissen, SWR 2, 26.3.03)

 

SÜDWESTRUNDFUNK

SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

 

 

 

“Üben statt schlucken -

Zappelkinder brauchen nicht immer Medikamente”

 

 

 

Autor: Jochen Paulus

Redaktion: Sonja Striegl

 

O-Ton 1 - Tanja Wolff Metternich, Zwillinge, Mutter:

Wolff Metternich: Setzt Euch beide hier drauf. Zwillinge: Nein, nein, nein. Wolff Metternich: Na, dann nimm du den, der ist genau daneben. (Gerumpel) Ja, aber ihr habt meinen Platz. Niklas: Der Sven fängt an. Sven: Nein, mein Bruder. Niklas: Sven. Sven: Mein Bruder. Wolff Metternich: Bitte, jetzt hört doch auf.

 

Sprecherin:

„Üben statt schlucken - Zappelkinder brauchen nicht immer Medikamente“, eine Sendung von Jochen Paulus.

 

O-Ton 2 - Niklas, Mutter:

Niklas: (jault und jammert) Ach Mann. Mutter: beschwichtigt

 

Sprecherin:

Wenn die achtjährigen Zwillinge Sven und Niklas die Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie Köln besuchen, geht es hoch her - wie bei vielen der jungen Patienten. Auch die Mutter von Lars hat es nicht leicht mit ihrem Siebenjährigen.

 

O-Ton 3 - Lars:

Lars johlt ins Mikro

 

Sprecherin:

Seit zwei Jahren kommt sie hierher zu Therapeutin Tanja Wolff Metternich.

 

 

 

O-Ton 4 - Mutter von Lars:

Also, im Kinderzimmer sieht es immer sehr wüst aus, weil er sich nicht gut immer nur mit einem Spiel befassen kann. Also, ihm fällt dann ein, dass er mit Lego bauen könnte, dann macht er die Legokiste leer. Baut dann ein bisschen was. Dann zehn Minuten später sieht er wieder was anderes. Dann packt er die Kiste aus, aber er räumt dann vorher die eine Kiste nicht auf. Auch wenn man ihm sagt, er soll das wegräumen. Er schüttet halt alle Kisten aus und dann geht er wieder.

 

O-Ton 5 - Tanja Wolff Metternich:

Auch ganz normale, eigentlich automatische Abläufe wie Anziehen waren wirklich schwierig und die Mutter hat auch eine ganz starke motorische Unruhe beschrieben, die man auch direkt selbst sehen konnte. Also, er war sozusagen einfach zu diagnostizieren, weil das sehr eindeutig ist bei ihm.

 

Sprecherin:

„Hyperaktivität“ lautet die Diagnose der Therapeutin, genau wie bei Sven und Niklas. Kein psychisches Problem wird Kindern heute häufiger bescheinigt als diese Störung der Aufmerksamkeit. Studien zufolge leiden drei Prozent der Schulkinder an Hyperaktivität, nach anderen Untersuchungen sogar doppelt so viele. „Ein Kind pro Klasse“, lautet die Faustregel. Meist sind Jungen betroffen. Die Kleinen können nicht still sitzen, zappeln herum und tigern durch die Gegend. Andere wirken eher verträumt. Gemeinsam ist ihnen der eigentliche Kern der Störung. Sie können sich nur sehr schlecht konzentrieren. Kaum taucht etwas Neues auf, vergessen sie häufig, was sie gerade machen wollten oder sollten.

 

O-Ton 6 - Mutter von Lars:

Wenn man irgendwo sitzt und irgend etwas beiläufig sagt, dann springt er direkt auf und guckt, wenn ein Vogel draußen fliegt oder so. Oder er soll was holen, dann sieht er auf dem Weg irgendwas anderes und dann vergisst er das.

 

Sprecherin:

Aber kann man da schon von einer Krankheit reden? Manche Pädagogen halten Hyperaktivität für eine Modediagnose. Die Unruhe ist in ihren Augen kein Problem der Kinder. Vielmehr zeigten häufig doppelverdienende oder geschiedene Eltern ein Aufmerksamkeitsdefizit gegenüber ihren Kindern. Die werden als störend empfunden, weil sie nicht in eine durchorganisierte Welt passen. Professor Gerd Lehmkuhl ist anderer Ansicht. Er leitet die Kölner Kinder- und Jugendpsychiatrie, an der die Schwerpunktambulanz für Hyperaktivität angesiedelt ist.

 

O-Ton 7 - Professor Gerd Lehmkuhl:

Das wäre eine etwas zu einfache Sicht. Natürlich haben viele Kinder hyperaktive Verhaltensweisen, aber eine Kerngruppe hat die so ausgeprägt, dass sie eben in vielen Bereichen Schwierigkeiten haben, zum Beispiel in der Familie, in der Schule, auch in der Gruppe der gleichaltrigen Kinder. Insofern kann Hyperaktivität wirklich die Entwicklung von Kindern sehr nachhaltig stören. Und diese Kinder sollten auch dann Hilfe erhalten.

 

Sprecherin:

Hyperaktivität ist eine reale Krankheit. Das belegen auch Studien, die zeigen: Das Gehirn dieser Kinder funktioniert etwas anders als das von Gleichaltrigen. Wissenschaftler haben alle möglichen Veränderungen ausgemacht: Die Gehirne der Patienten sind einige Prozent kleiner als die von Gleichaltrigen, so eine vor kurzem veröffentlichte Studie. Nach anderen Befunden sollen die Gehirnaktivitäten geringer sein und Stoffwechselstörungen zu einer fehlerhaften Informationsverarbeitung führen. Wo die Gründe genau liegen, weiß allerdings niemand. Von einem angeblichen gefundenen Gen bis zum Drogenmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft wird vieles diskutiert.

 

O-Ton 8 - Professor Gerd Lehmkuhl:

Es gibt anlagebedingte, genetische Faktoren, die sich widerspiegeln in bestimmten Abläufen im Hirnstoffwechsel. Das kann man heute mit verschiedenen Methoden sehr gut nachweisen, dass es eben in bestimmten Arealen dort Veränderungen gibt in der Interaktion zwischen Hemmung und Enthemmung.

 

Sprecherin:

Nicht zuletzt wegen dieser organischen Grundlagen der Störung liegt für viele Ärzte der Griff zum Rezeptblock noch näher als ohnehin schon. Ihr Standardmittel ist das Psychostimulans Methylphenidat, bekannter unter dem Markennamen Ritalin. Von der Substanz wird heute vierzig mal so viel verschrieben wie noch 1990 - Tendenz weiter steigend. Das Psychomedikament fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Trotzdem verordnen es keineswegs nur Kinderpsychiater, sondern auch Kinderärzte, Allgemeinmediziner sowie gelegentlich sogar Orthopäden und Pathologen. Vor kurzem forderte daher der Bundesverband der Innungskrankenkassen, nur noch besonders qualifizierte Mediziner sollten das Mittel verschreiben dürfen.

 

O-Ton 9 - Professor Gerd Lehmkuhl:

Die Diagnose ist sicherlich der Kernpunkt der ganzen Geschichte. Das heißt, man muss schon sich Zeit und Mühe nehmen, um mit verschiedenen Angaben die Diagnose abzusichern. Wir brauchen die Daten der Lehrer, wir brauchen Angaben der Eltern, wir brauchen Hinweise über die Entwicklung des Kindes. Wir brauchen eine gründliche Untersuchung in der Praxis oder in der Klinik selber. Wir brauchen also auch Daten vom Kind über Leistungsverhalten, über seinen Arbeitsstil, über die Belastbarkeit, auch wie er selber sein Verhalten steuern kann. Das heißt, wir müssen eine Gesamtschau haben, viele verschiedene Informationen und erst dann können wir wirklich sicher sein oder können die Diagnose stellen einer hyperaktiven Störung. Man muss sagen, dass vielleicht doch manchmal diese Diagnose zu rasch gestellt wird und alle Schwierigkeiten diesen globalen Namen bekommen: Hyperaktivität. Das hilft auch dann nicht den betroffenen Kindern.

 

Sprecherin:

Das hat Professor Lehmkuhl noch höflich ausgedrückt. Etwa die Hälfte der Kinder, die Ritalin bekommen, sind überhaupt nicht hyperaktiv, so ein amerikanischer Befund. In Deutschland liegen die Ärzte wahrscheinlich genau so oft daneben. Aber selbst wenn die Diagnose fest steht, muss man sich über die Therapie trotzdem noch Gedanken machen.

 

O-Ton 10 - Professor Gerd Lehmkuhl:

Die Diagnose einer hyperaktiven Störung muss nicht heißen, dass man Medikamente gibt. Das hängt ab einmal von der Ausprägung. Das hängt auch ab von den Auswirkungen der Schwierigkeiten und auch davon, welche anderen Alternativen man hat, um ein Therapieprogramm mit den Eltern und dem Kind abzustimmen.

 

Sprecherin:

Die Universität Köln hat ein psychologisches Programm entwickelt, das zumindest einem Teil der Kinder die Medikamente ersparen kann: das „Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten“, kurz THOP. Oppositionelles Problemverhalten tritt oft zusammen mit Hyperaktivität auf - die Kleinen hören nicht auf Eltern und Lehrer und verhalten sich häufig auch aggressiv gegen andere Kinder. THOP basiert auf führenden angelsächsischen Programmen für schwierige Kinder und zählt inzwischen selbst zu den international am besten überprüften Behandlungen. Psychologieprofessor Manfred Döpfner von der Kölner Kinderpsychiatrie ist einer der geistigen Väter des Programms. In der Therapie achten er und seine Kollegen vor allem auf so genannte Teufelskreise, in denen sich hyperaktive Kinder und ihre Eltern oft verfangen. Zum Beispiel beim Dauerbrenner Hausaufgaben.

 

O-Ton 11 - Professor Manfred Döpfner:

Typischerweise passiert dann folgendes: Dass die Kinder, schon mal aufgrund ihrer Tendenz, eher unruhig zu sein, ihrer Aufmerksamkeitsschwäche, hören gar nicht richtig zu, darauf nicht eingehen. Also, sie fangen nicht mit den Hausaufgaben an. Dann geht es weiter. Mutter wiederholt und wird immer lauter in ihrer Stimme, dass sie jetzt mit den Hausaufgaben beginnen soll, und Kind stellt irgendwie die Ohren auf Durchzug, weil Hausaufgaben ja auch was unangenehmes ist, und wenn man die um 15 Minuten nach hinter verschieben kann, ist das schon einfach erst mal entlastend.

 

Sprecherin:

Allerdings währt die Freude nur kurz. Bald droht die Mutter mit massiven Konsequenzen, ohne vorher zu überlegen, ob sie die überhaupt durchsetzen kann.

 

O-Ton 12 - Professor Manfred Döpfner:

Und dann kommt man an einen Punkt, wo man nicht mehr weiß, wie es weitergeht als Eltern. Man hat eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder man wird wirklich sehr massiv aggressiv, körperlich aggressiv oder auch verbal sehr verletzend dem Kind gegenüber. Oder man gibt einfach nach, das heißt, die Hausaufgaben werden erst einmal nicht gemacht. In beiden Fällen machen die Kinder äußerst ungünstige Erfahrungen. Entweder sie lernen am Vorbild der Eltern, am Modell der Eltern, wie man Probleme löst, wenn man der Stärkere ist, nämlich mit Gewalt, probieren es bei der kleinen Schwester aus und siehe da, es funktioniert erst mal. Oder auch auf der Straße. Oder sie machen die Erfahrung, dass man unangenehme Dinge - Hausaufgaben - dadurch sich denen entledigen kann, indem man die Ohren lang genug auf Durchzug stellt, unruhig ist, verweigernd ist oder einfach aus dem Feld geht. Also die Eltern erziehen damit unfreiwilligerweise die Kinder zu noch unruhigerem, noch unaufmerksamerem und auch oppositionellem, verweigerndem Verhalten.

 

Sprecherin:

Wenn sich Eltern und Kinder in diesem Teufelskreis bewegen, hat das noch eine weitere, nicht minder fatale Konsequenz.

 

O-Ton 13 - Professor Manfred Döpfner:

Wenn die Kinder mal das tun, was sie tun sollen, ist man ja so froh, dass der das macht, und so entlastet, dass man jetzt endlich das tun kann, was die ganze Zeit liegen geblieben ist. Wenn man das so ein bisschen holzschnittartig sagt Also, der Abwasch kann endlich mal gemacht werden und der Vater darf die Zeitung weiterlesen. Dann macht man diese andere Tätigkeit, wendet sich eigentlich nicht dem Kinde zu. Was dazu führt, dass angemessene Verhaltenstendenzen oder halbwegs angemessene Verhaltenstendenzen nicht unterstützt und nicht verstärkt werden.

 

Sprecherin:

Das Kind hat somit keinen Grund, die Hausaufgaben in Zukunft zu machen. Es bringt ihm ja nichts. Und bald haben die Eltern wieder Grund, sich über die Verweigerungshaltung des Kindes aufzuregen. Bald sehen sie nur noch Probleme. Hier setzt die Therapie als erstes an. Die Eltern sollen wieder lernen, auch die guten Seiten zu sehen. Jeden Abend sollen sie überlegen, was heute gut geklappt hat und was ihnen an ihrem Nachwuchs gefällt. Die Therapeutin Tanja Wolff Metternich:

 

0-Ton 14 - Tanja Wolff Metternich:

Die Wirkung ist, dass den Eltern tendenziell mehr und mehr positives wieder auffällt oder überhaupt einfällt, dass sie sich darauf konzentrieren, dass sie das sammeln, vor allem aber ist es sehr günstig, dass sie es ihren Kindern sagen. Dass es am Ende des Tages, auch wenn es vorher Konflikte gegeben hat, noch mal einen Punkt gibt, wo gerade bewusst schöne Dinge angesprochen werden.

 

Sprecherin:

Manchmal verschreiben die Therapeuten auch eine so genannte Spaß- und Spielzeit - ohne Vorschriften. Das Kind darf mit den Eltern spielen, was es will. Viele Väter und Mütter waren angenehm überrascht, ihr Kind nicht nur immer als Trotzkopf zu erleben. Dennoch kommen sie nicht darum herum, im Alltag auch Anweisungen zu geben.

 

O-Ton 15 - Professor Manfred Döpfner:

Stellen Sie eine Aufforderung nur dann, wenn Sie in der Lage sind, sie auch umzusetzen. Wenn Eltern diese Regel beherzigen, aber auch Lehrer und andere Bezugspersonen, das bezieht sich nicht nur auf Eltern, dann reduziert sich nach unserer Erfahrung der Anteil der Aufforderungen um 50, 60 Prozent.

 

Sprecherin:

Die Mutter oder der Vater muss also da sein und darauf bestehen, dass die Hausaufgaben, oder was sonst gerade anliegt, erledigt werden. Kooperiert das Kind, ist ein Lob oder eine kleine Belohnung fällig. Menschen machen nun mal eher das, was sich für sie auszahlt. Das ist die banale, aber häufig missachtete Grundregel der Verhaltenstherapie. Zu dieser wissenschaftlich am besten abgesicherten Therapierichtung zählt das THOP. Wenn Lob alleine nicht reicht, greifen die Kölner Therapeuten zu einem besonderen Hilfsmittel. Einem Blatt Papier, auf dem Punkte eine Schlange bilden.

 

O-Ton 16 - Tanja Wolff Metternich, Lars, Mutter:

Lars: Da sammelt man Punkte und dann kann man was bauen. Lego. Wolff Metternich: Was wär’ denn, wenn Du keine Punkte hast. Das hatten wir fast noch nie. Du hast eigentlich immer Punkte gesammelt. Was wär’ denn, wenn Du weniger hast? Lars: Dann kann ich auch weniger bauen. Wolff Metternich: Und wenn Du mehr hast? Lars: Dann kann ich mehr bauen. Wolff Metternich: Jetzt gucken wir mal, wie viele hast Du denn insgesamt geschafft dieses Mal? Da ist noch ein Blatt. Zähl doch mal. Lars: Drei, vier, fünf (zählt schweigend)

 

Sprecherin:

In der Therapiestunde kann Lars die Punkte in Legosteine eintauschen und gleich etwas damit bauen.

 

O-Ton 17 - Tanja Wolff Metternich, Lars, Mutter:

Lars: 34. Wolff Metternich: Das ist ja schon eine ganze Menge. Und die Mama hat ja eben gesagt, morgens kannst Du Punkte bekommen. Was musst Du denn morgens schaffen, damit Du Punkte bekommst? Zum Beispiel heute hast Du noch einen gekriegt. 30, steht hier. Was hast Du denn dafür geschafft? Lars: Anziehen. Wolff Metternich: Aha. Wie viele kriegst Du, wenn Du dich angezogen hast? Wie viele Punkte? Lars: Einen. Wolff Metternich: Aha, dann hast Du dich ganz, ganz oft angezogen. Sieht so aus.

 

Sprecherin:

Auch für andere lästige Aktivitäten bekommt Lars von seiner Mutter Punkte zugeteilt.

 

O-Ton 18 - Mutter von Lars:

Für Sachen wegräumen, also, dass er seine Sachen wegräumt, wenn er sich dann angezogen hat. Also er muss sich bis zu einer gewissen Zeit angezogen haben und halt, wenn er die Toilette abdrückt, da kriegt er noch einen Punkt für, so am Vormittag und wenn er bis dahin das nicht geschafft hat, dann bekommt er halt keine Punkte.

 

Sprecherin:

Aber ist so ein Belohnungssystem nicht eher Dressur als Erziehung? Und verpuffen nicht alle Erfolge in dem Moment, in dem die Belohnungen wieder abgesetzt werden? Schließlich können die Eltern nicht bis ins Erwachsenenalter ständig Punkte verteilen. Kommt drauf an, meint Stephanie Schürmann, eine andere Psychologin der Schwerpunkt-Ambulanz.

 

O-Ton 19 - Stephanie Schürmann:

Was damit aber bewirkt werden soll, ist, dass im Grunde genommen sich die Interaktion, also die Beziehung zwischen Kind und Elternteil wieder verändert. Das heißt, die Eltern auf diese positiven Sachen achten und die auch wirklich würdigen, loben, verstärken. Und dieses Kind merkt: Wenn ich mich so verhalte, wie es sein soll, sind meine Eltern mit mir zufrieden und eigentlich will das jedes Kind. Und wenn auf dieser Ebene etwas stattgefunden hat, dass sich die Interaktion verändert und beide Teile zufriedener sind, dann wird auch oft dieser Punkteplan mit der Zeit überflüssig und Eltern und Kinder vergessen den und es bleibt trotzdem konstant gut, aber es muss auch diese Verhaltens- und dann auch die Beziehungsebene geben. Und wenn sich auf der Beziehungsebene nichts verändert, dann bleibt es mechanisch und dann wären die Probleme auch sofort wieder da, wenn man es absetzen würde.

 

Sprecherin:

Die Kölner Therapeuten empfehlen allerdings nicht nur Lob und Belohnungen. Sie scheuen auch vor Strafen nicht zurück - auch wenn die in der heutigen Pädagogik nicht sehr populär sind.

 

 

O-Ton 20 - Stephanie Schürmann:

Das heißt, nicht die Härte der Strafen sozusagen ist das, was eine Erziehung steuert, sondern dass es dauerhaft gemacht wird, kontinuierlich gemacht wird und auch, dass es sinnvoll damit im Zusammenhang steht. Also einfaches Beispiel: Glas wird wegen Zappeligkeit, hab’ wieder nicht aufgepasst, umgeschüttet, dann sollte das Kind versuchen, das selber wegzuwischen, so gut es vom Alter her halt geht. Das heißt, es soll seinen Schaden selber wieder wegmachen. Unangemessen wäre es, eine Woche Stubenarrest zu geben dafür, das würde man auch nicht - wie wir dann halt sagen - durchhalten können. Und wäre dann natürlich wieder schlecht, man hätte was angedroht, was nicht umgesetzt wird in die Tat.

 

Sprecherin:

Wenn Lob und Strafe etwas bewirken sollen, müssen sie schnell erfolgen. Gerade hyperkinetische Kinder reagieren auf sofortige Konsequenzen. Professor Döpfner hat dafür ein überraschendes Beispiel:

 

O-Ton 21 - Professor Manfred Döpfner:

Wenn man mit diesen Kindern Gameboy spielt, dann wird man überrascht sein, wie ausdauernd sie sind, wie konzentriert sie sind, wie wohl geordnet sie sind. Gameboy oder andere Computerspiele ist eine Situation, da erfolgen positive und negative Konsequenzen in Millisekunden-Bruchteilen. Also wenn Sie den falschen Daumen drücken, (woing, woing, woing) verlieren Sie ein Leben. Wenn Sie richtig drücken, kommen Sie in die nächste Stufe weiter. Und da sind Kinder extrem gut und auch hyperkinetische Kinder können das sehr gut steuern.

 

Sprecherin:

Im wirklichen Leben lassen Konsequenzen oft viel zu lange auf sich warten.

 

O-Ton 22 - Professor Manfred Döpfner:

Wenn dann nach drei Monaten Problemverhalten irgendwann eine Klassenkonferenz einberufen wird, und dann nach weiteren zwei Monaten für drei Tage ein Ausschluss aus der Klasse erfolgt mit allen juristischen Absicherungen, dann beeinflusst das das Verhalten des Kindes relativ wenig.

 

Sprecherin:

Trotzdem arbeiten die Psychologen sehr viel mit Lehrern und Erziehern zusammen. Denn es nützt wenig, die Probleme nur für die Dauer der Therapiestunde zu lösen. Wichtig ist, dass die Kinder dort besser klar kommen, wo sie Schwierigkeiten haben und das ist neben dem Elternhaus meist die Schule.

 

O-Ton 23 - Tanja Wolff Metternich:

Es hat unglaublich großen Einfluss auf den Verlauf, in wie weit auch andere Bezugspersonen, sprich Erzieher, Lehrer bereit sind, mitzuarbeiten oder sogar Interventionen in ihrem Bezugssystem durchzuführen. Also man weiß aus Studien ... dass solche Interventionen unglaublich wirksam sind, dass man gerade verhaltenstherapeutisch Strategien in so einem Gruppensetting und in der Schul-Natur-Situation besonders gut auch umsetzen kann, auch im Kindergarten: Und wenn eben Leute da mitarbeiten und sich darauf einlassen können, diese Kinder sehr profitieren und normalerweise auch die Bezugspersonen selbst für ihr zukünftiges Arbeiten, denn es ist sehr häufig, dass man solche Kinder in seinen Klassen oder seinen Gruppen wieder findet.

Sprecherin:

Hyperaktive Kinder stellen Pädagogen vor besondere Probleme. Bei ihnen geht es nicht um eine einzelne Missetat, die der Lehrer mit einem Eintrag ins Klassenbuch ahnden kann. Stattdessen fallen sie dauernd mit Kleinigkeiten auf, indem sie etwa unaufmerksam sind oder aufspringen. Deswegen fortwährend Strafen auszuteilen, hilft wenig und nimmt die letzte Lust auf die Schule. Bewährt hat sich statt dessen eine besondere Technik, der „Wettkampf um lachende Gesichter“. Diese Gesichter zieren Spielmarken.

 

O-Ton 24 - Tanja Wolff Metternich:

Die spielen um eine bestimmte Anzahl von Spielmarken, meistens zehn. Dann wird eine Zeit definiert, etwa eine Schulstunde. Und jedes Mal, wenn das Kind aufsteht, also etwas macht, was es nicht soll, eigentlich, nimmt sich der Lehrer eine von diesen Spielmarken, sagt dem Kind aber: die anderen neun gehören noch dir. Wenn du es jetzt schaffst, bis zum Ende der Stunde sitzen zu bleiben, sind das deine. Dann kannst Du die mit in die Therapiestunde nehmen, zum Beispiel oder irgendwie anders eintauschen. Also man muss erstens sie nicht wieder ausdrücklich auffordern und den Namen herausstellen und lang und breit irgendwas erklären, sondern man nimmt einfach dieses Teil weg und das nächste Mal nimmt man eben noch ein Teil weg. Aber man kann trotzdem noch sagen, hier, es ist also nicht schon gelaufen. Denn wenn man zum Beispiel sagt, du darfst nachher nicht mit zum Schwimmen, dann kann sich das Kind sagen, och, dann brauche ich mich ja überhaupt nicht mehr gut zu benehmen.

 

Sprecherin:

Das ist natürlich keine Dauerlösung. Die Kinder müssen lernen, sich selbst in den Griff zu bekommen. Um das zu trainieren, werden sie zu ihrem persönlichen Aufpasser ernannt.

 

O-Ton 25 - Stephanie Schürmann:

Also wo wir halt sagen, okay, Du bist wirklich so Dein eigener Detektiv und versuchst, Dich selber zu beobachten, was Du tust. Und führst darüber Liste. Also zum Beispiel die ganz Kleinen, die sind noch so motorisch unruhig, die laufen im Klassenzimmer umher. Und eigentlich wollen sie das gar nicht. Sie merken, das stört und die Klassenlehrerin schimpft, und sie wollen eigentlich am Platz sitzen bleiben. Dass man mit denen zum Beispiel so ne Liste macht, die sie bei sich auf dem Tisch liegen haben, was wie so eine Art Knoten im Taschentuch ist. Alleine die Liste auf dem Tisch erinnert dieses Kind, ich will auf meinem Platz sitzen bleiben. Und dass er dann pro Stunde für sich selber abzeichnet: Habe ich es geschafft, mein Ziel, ja oder nein?

 

Sprecherin:

Die Antwort wird dann in die Liste, den so genannten Detektiv-Bogen eingetragen. Beispielsweise in der Zeile: „Super“. „Beweis“: Ganze Stunde sitzen geblieben.

 

O-Ton 26 - Stephanie Schürmann:

Und kommt dann mit dieser Liste halt in die Therapiestunde und wir versuchen, das natürlich sehr zu verstärken, wenn er das geschafft hat. Oder wenn er es nicht gut schafft, Hilfen zu überlegen. Kannst Du vielleicht Deinen Nachbarn, könnte der Dir helfen, wenn er merkt, dass Du aufstehen willst, dass er Dich schnell anstupst: Bleib doch lieber sitzen.

 

Sprecherin:

In der Regel dauert die Behandlung bei THOP ein halbes oder ein dreiviertel Jahr. Den meisten Kindern hilft sie dauerhaft, wie Döpfner und seine Kollegen bei Nachuntersuchungen bis zu fünf Jahre später festgestellt haben.

 

O-Ton 27 - Professor Manfred Döpfner:

Mehr als die Hälfte der Kinder profitierten sehr stark, sowohl nach dem Urteil der Eltern, etwas weniger nach dem Urteil der Lehrer, da waren es rund vierzig Prozent, so stark, dass immer noch Symptome zwar da waren, aber nicht mehr in dem klinischen Bereich, also nicht mehr massive Auffälligkeiten waren.

 

Sprecherin:

Allerdings: Die psychologische Behandlung allein kann nicht allen helfen. Bei etwa einem Drittel der Kinder reicht sie nicht aus. Dann geben auch die Kölner Ritalin. Sie verordnen es sogar von Anfang an, wenn die Probleme zuhause und in der Schule bereits so massiv sind, dass schnell etwas geschehen muss.

 

O-Ton 28 - Professor Manfred Döpfner:

Eine Nichtbeachtung von medikamentösen Behandlungsalternativen halte ich sogar für einen Kunstfehler. Weil auch unsere und andere Studien zeigen - ich würde ja gern anderes berichten - dass wir mit der Verhaltenstherapie auch an Grenzen stoßen. Und es sieht so aus, dass die, die besonders heftig davon betroffen sind, die Kinder und Jugendlichen, denen wirklich damit geholfen werden kann.

 

Sprecherin:

Der Nutzen übersteigt in den Augen der Kölner die häufig dramatisierten Risiken. Studien haben inzwischen bewiesen, dass so behandelte Kinder sich keineswegs wie oft behauptet an Psychomedikamente gewöhnen - im Gegenteil: Sie werden später seltener drogenabhängig als unbehandelte Hyperaktive. Auch die Warnung, Ritalin könne später Parkinson auslösen, überzeugt Lehmkuhl derzeit nicht.

 

O-Ton 29 - Professor Gerd Lehmkuhl:

Es sind ja Versuche von Ratten und es sind bislang wenige Tiere, wo eine bestimmte Veränderung gefunden wurde in der Nervenzellstruktur, die möglicherweise in einem späteren Alter dann zu Parkinson führen könnte. Aber es gibt auch ganz andere Theorien dazu, die besagen, dass diese Veränderungen nicht automatisch mit einem Parkinson in Beziehung gebracht werden können. Das andere ist, dass solche Theorien von Tiermodellen ausgehen, insofern auf den Menschen nur begrenzt übertragen werden können. Und es gibt keine Daten von Menschen selber, obwohl das Präparat ja schon seit vielen Jahrzehnten auf dem Markt ist, wo eine Parkinson-Erkrankung gefunden wurde. Insofern sprechen die klinischen Daten dagegen, auch das Nebenwirkungsprofil spricht dagegen.

 

Sprecherin:

Aber brauchen die Kinder auch noch eine psychologische Betreuung, wenn sie schon Medikamente bekommen? Eine große amerikanische Studie kam zum Schluss: Verhaltenstherapie plus Medikamente hilft nicht viel besser als nur das Medikament. Trotzdem rät Professor Lehmkuhl zusätzlich zum Psychoprogramm.

 

 

 

O-Ton 30 - Professor Gerd Lehmkuhl:

Psychostimulantien wirken nur so lange, wie man sie gibt. Das heißt, sie haben keine heilende Wirkung. Sie wirken nur auf das Symptomspektrum.

 

Sprecherin:

Medikamente lindern zwar die Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit, aber sie bringen den Kindern nicht bei, wie sie mit ihren Mitmenschen besser auskommen können.

 

O-Ton 31 - Professor Gerd Lehmkuhl:

Wenn man zum Beispiel weitere Verhaltensmerkmale wie Aggressivität oder Interaktionsschwierigkeiten auch in der Schule behandeln möchte, dann kommt man mit der Medikation alleine nicht hin. Zu sagen das schnellste und billigste Mittel ist die Medikation wäre eine fatale Reduktion unserer Maßnahmen nur auf diese Pharmakobehandlung und das würde ich weder den betroffenen Kindern noch ihren Familien wünschen, denn dann kommen andere Bereiche deutlich zu kurz.

 

O-Ton 32 - Mutter der Zwillinge:

Das ganze Zusammenspiel von Schule und hier das und Medikament, das wirkt so ineinander, dass die doch etwas besser drauf sind, als wenn sie das nicht bekämen. Es ist zwar zum Teil aufwendig und alles mögliche, aber ich denke, es wird ihnen - Niklas, Niklas nicht tun - es wird ihnen später hoffentlich doch zugute kommen. Sonst würde ich ja nicht hierhin kommen (Kind singt noch ein bisschen).

 

Sprecherin:

Auch wenn die lange Psychotherapie vor allem dem Kind und seinen Eltern viel Arbeit macht, ist sie doch notwendig. Das zeigen Langzeitstudien mit unbehandelten Kindern.

 

O-Ton 33 - Professor Manfred Döpfner:

Früher hieß es immer wieder, das Problem wächst sich ja so und so aus, so mit der Pubertät. Das kann man heute auf keinen Fall mehr unterschreiben. Was sich halbwegs regelmäßig vermindert, auch wohl spontan vermindert, also ohne spezifische Intervention, ist die motorische Unruhe.

 

Sprecherin:

Aber sich konzentrieren und ihr Verhalten kontrollieren können die Herangewachsenen deswegen noch lange nicht. Etwa die Hälfte bleibt vergesslich, ist nicht sehr zuverlässig und kann sich ihre Zeit schlecht einteilen.

 

O-Ton 34 - Professor Manfred Döpfner:

Es ist ein erschreckend stabiles Verhalten und 40, 50 Prozent der Kinder mindestens, die hyperkinetische Auffälligkeiten haben, haben eben auch oppositionelles, aggressives Verhalten. Und wenn sich das im Grundschulalter deutlich entwickelt, ist das Risiko groß, dass sie im Jugendalter auch delinquent auffällig werden. Also wirklich Gesetze in einem Maße übertreten, wie es nicht mehr im üblichen Rahmen ist, wie es im Jugendalter gelegentlich dann auch passiert. Also wirklich in eine deutlich delinquente Entwicklung hineingehen und in dem Zusammenhang auch Gefahr laufen, in delinquente Gleichaltrigengruppen reinzukommen und dann auch in Richtung Drogenkonsum, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch sich zu entwickeln.

 

 

Sprecherin:

Mitunter kann selbst die intensive Behandlung in Köln nicht mehr viel retten, etwa wenn sie zu spät begonnen wird. Tanja Wolff Metternich bemühte sich vergeblich um einen Jungen, der erst kam, als die Probleme sich schon lange zugespitzt hatten.

 

O-Ton 35 - Tanja Wolff Metternich:

Der war schon sehr früh als ganz kleines Kind auch sehr aggressiv. Er ist hierher gekommen erst mit 13, wo schon sehr viel im Argen lag. Da war die Familienkonstellation insofern schwierig, dass da, das war eine sehr gut situierte Familie, sehr viel, sehr lange gedeckt worden ist. Also nicht als ganz so schwierig angesehen worden ist, das war auch eine Familie, die sehr viel Sachen irgendwie geregelt hat. Also er konnte zum Beispiel im Kindergarten dann trotzdem bleiben, weil man jemanden kannte. Und eigentlich immer wieder Sachen zugedeckt worden sind und nicht wirklich angeschaut worden ist, was mit ihm war.

 

Sprecherin:

Doch Wegsehen löste das Problem nicht. Es wurde immer schlimmer.

 

O-Ton 36 - Tanja Wolff Metternich:

Er hat mit Drogen gedealt, er hat Waffen sich irgendwo beschafft und verkauft, auf dem Schulhof, hat Hehlerware verkauft, also wirklich heftige Dinge, wo wie gesagt immer noch versucht wurde, das zu übermanteln. Wo sich das aber so entwickelt hat, dass er später nicht aufhörte und im Jugendstrafvollzug sich noch befindet.

 

Sprecherin:

Stephanie Schürmann hatte in einem anderen Fall mehr Glück. Auch dieser Junge brachte schwere Probleme mit. Obwohl er gut durchschnittlich begabt war, wollte er in der Grundschule überhaupt nicht mitmachen und erschwerte den Unterricht erheblich. Seine Verhaltensprobleme waren sehr ausgeprägt.

 

O-Ton 37 - Stephanie Schürmann:

Ich erinnere mich an eine Situation, dass ich mit dem unter dem Tisch gesessen habe, dass mir Haare mal fielen, weil ich mit ihm in Rangeleien war, weil ich von ihm was erwartet habe.

 

Sprecherin:

Aber diesmal stimmten die Voraussetzungen. Die Eltern zogen bei der Therapie mit, ebenso die Schule.

 

O-Ton 38 - Stephanie Schürmann:

Er hat sich im Zaum an den Stellen, wo es notwendig ist und es hat bei ihm auch keinerlei dissoziale Entwicklung stattgefunden, was bei der Vorgeschichte auch durchaus denkbar gewesen wäre.

 

O-Ton 39 - Zwillinge, Mutter:

Kinder trällern unentwegt. Mutter: Zieh’ die Jacke an. Die Würfel bleiben auch hier. Es wird nichts mitgenommen.

 

Sprecherin:

Die heutige Therapiestunde geht zu Ende. Kaum eine andere psychische Störung bei Kindern ist so schwer zu behandeln wie Hyperaktivität. Darum sind die Erfolge von THOP gut, obwohl das Programm nicht allen Kindern helfen kann. Inzwischen arbeiten viele niedergelassene Verhaltenstherapeuten in Deutschland nach dem Kölner Konzept. Doch es gibt längst nicht genügend Spezialisten für all die Kinder, die diese Unterstützung bräuchten.

 

O-Ton 40 - Zwillinge, Mutter:

So, tschüss. Tschüss. Wir sehen uns morgen.

 

 

 


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