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Üben statt Schlucken |
SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst “Üben statt schlucken - Zappelkinder brauchen nicht immer Medikamente” Autor:
Jochen Paulus Redaktion:
Sonja Striegl O-Ton 1 - Tanja Wolff Metternich, Zwillinge, Mutter: Wolff Metternich:
Setzt Euch beide hier drauf. Zwillinge: Nein, nein, nein. Wolff
Metternich: Na, dann nimm du den, der ist genau daneben. (Gerumpel) Ja,
aber ihr habt meinen Platz. Niklas: Der Sven fängt an. Sven:
Nein, mein Bruder. Niklas: Sven. Sven: Mein Bruder. Wolff
Metternich: Bitte, jetzt hört doch auf. Sprecherin: „Üben statt schlucken - Zappelkinder brauchen nicht immer Medikamente“, eine Sendung von Jochen Paulus. O-Ton 2 - Niklas, Mutter: Niklas: (jault und
jammert) Ach Mann. Mutter: beschwichtigt Sprecherin: Wenn die achtjährigen Zwillinge Sven und Niklas die Ambulanz der
Kinder- und Jugendpsychiatrie Köln besuchen, geht es hoch her - wie bei
vielen der jungen Patienten. Auch die Mutter von Lars hat es nicht leicht mit
ihrem Siebenjährigen. O-Ton 3 - Lars: Lars johlt ins
Mikro Sprecherin: Seit zwei Jahren kommt sie hierher zu Therapeutin Tanja Wolff
Metternich. O-Ton 4 - Mutter von Lars: Also, im Kinderzimmer sieht es immer sehr wüst aus, weil er sich nicht
gut immer nur mit einem Spiel befassen kann. Also, ihm fällt dann ein, dass
er mit Lego bauen könnte, dann macht er die Legokiste leer. Baut dann ein
bisschen was. Dann zehn Minuten später sieht er wieder was anderes. Dann
packt er die Kiste aus, aber er räumt dann vorher die eine Kiste nicht auf.
Auch wenn man ihm sagt, er soll das wegräumen. Er schüttet halt alle Kisten
aus und dann geht er wieder. O-Ton 5 - Tanja Wolff Metternich: Auch ganz normale, eigentlich automatische Abläufe wie Anziehen waren
wirklich schwierig und die Mutter hat auch eine ganz starke motorische Unruhe
beschrieben, die man auch direkt selbst sehen konnte. Also, er war sozusagen
einfach zu diagnostizieren, weil das sehr eindeutig ist bei ihm. Sprecherin: „Hyperaktivität“ lautet die Diagnose der Therapeutin, genau wie bei
Sven und Niklas. Kein psychisches Problem wird Kindern heute häufiger
bescheinigt als diese Störung der Aufmerksamkeit. Studien zufolge leiden drei
Prozent der Schulkinder an Hyperaktivität, nach anderen Untersuchungen sogar
doppelt so viele. „Ein Kind pro Klasse“, lautet die Faustregel. Meist sind
Jungen betroffen. Die Kleinen können nicht still sitzen, zappeln herum und
tigern durch die Gegend. Andere wirken eher verträumt. Gemeinsam ist ihnen
der eigentliche Kern der Störung. Sie können sich nur sehr schlecht
konzentrieren. Kaum taucht etwas Neues auf, vergessen sie häufig, was sie
gerade machen wollten oder sollten. O-Ton 6 - Mutter von Lars: Wenn man irgendwo sitzt und irgend etwas beiläufig sagt, dann springt
er direkt auf und guckt, wenn ein Vogel draußen fliegt oder so. Oder er soll
was holen, dann sieht er auf dem Weg irgendwas anderes und dann vergisst er
das. Sprecherin: Aber kann man da schon von einer Krankheit reden? Manche Pädagogen halten
Hyperaktivität für eine Modediagnose. Die Unruhe ist in ihren Augen kein
Problem der Kinder. Vielmehr zeigten häufig doppelverdienende oder
geschiedene Eltern ein Aufmerksamkeitsdefizit gegenüber ihren Kindern. Die
werden als störend empfunden, weil sie nicht in eine durchorganisierte Welt
passen. Professor Gerd Lehmkuhl ist anderer Ansicht. Er leitet die Kölner
Kinder- und Jugendpsychiatrie, an der die Schwerpunktambulanz für
Hyperaktivität angesiedelt ist. O-Ton 7 - Professor Gerd Lehmkuhl: Das wäre eine etwas zu einfache Sicht. Natürlich haben viele Kinder
hyperaktive Verhaltensweisen, aber eine Kerngruppe hat die so ausgeprägt,
dass sie eben in vielen Bereichen Schwierigkeiten haben, zum Beispiel in der
Familie, in der Schule, auch in der Gruppe der gleichaltrigen Kinder.
Insofern kann Hyperaktivität wirklich die Entwicklung von Kindern sehr
nachhaltig stören. Und diese Kinder sollten auch dann Hilfe erhalten. Sprecherin: Hyperaktivität ist eine reale Krankheit. Das belegen auch Studien, die
zeigen: Das Gehirn dieser Kinder funktioniert etwas anders als das von
Gleichaltrigen. Wissenschaftler haben alle möglichen Veränderungen
ausgemacht: Die Gehirne der Patienten sind einige Prozent kleiner als die von
Gleichaltrigen, so eine vor kurzem veröffentlichte Studie. Nach anderen
Befunden sollen die Gehirnaktivitäten geringer sein und Stoffwechselstörungen
zu einer fehlerhaften Informationsverarbeitung führen. Wo die Gründe genau
liegen, weiß allerdings niemand. Von einem angeblichen gefundenen Gen bis zum
Drogenmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft wird vieles
diskutiert. O-Ton 8 - Professor Gerd Lehmkuhl: Es gibt anlagebedingte, genetische Faktoren, die sich widerspiegeln in
bestimmten Abläufen im Hirnstoffwechsel. Das kann man heute mit verschiedenen
Methoden sehr gut nachweisen, dass es eben in bestimmten Arealen dort
Veränderungen gibt in der Interaktion zwischen Hemmung und Enthemmung. Sprecherin: Nicht zuletzt wegen dieser organischen Grundlagen der Störung liegt
für viele Ärzte der Griff zum Rezeptblock noch näher als ohnehin schon. Ihr
Standardmittel ist das Psychostimulans Methylphenidat, bekannter unter dem
Markennamen Ritalin. Von der Substanz wird heute vierzig mal so viel
verschrieben wie noch 1990 - Tendenz weiter steigend. Das Psychomedikament
fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Trotzdem verordnen es keineswegs nur
Kinderpsychiater, sondern auch Kinderärzte, Allgemeinmediziner sowie
gelegentlich sogar Orthopäden und Pathologen. Vor kurzem forderte daher der
Bundesverband der Innungskrankenkassen, nur noch besonders qualifizierte
Mediziner sollten das Mittel verschreiben dürfen. O-Ton 9 - Professor Gerd Lehmkuhl: Die Diagnose ist sicherlich der Kernpunkt der ganzen Geschichte. Das
heißt, man muss schon sich Zeit und Mühe nehmen, um mit verschiedenen Angaben
die Diagnose abzusichern. Wir brauchen die Daten der Lehrer, wir brauchen
Angaben der Eltern, wir brauchen Hinweise über die Entwicklung des Kindes.
Wir brauchen eine gründliche Untersuchung in der Praxis oder in der Klinik
selber. Wir brauchen also auch Daten vom Kind über Leistungsverhalten, über
seinen Arbeitsstil, über die Belastbarkeit, auch wie er selber sein Verhalten
steuern kann. Das heißt, wir müssen eine Gesamtschau haben, viele
verschiedene Informationen und erst dann können wir wirklich sicher sein oder
können die Diagnose stellen einer hyperaktiven Störung. Man muss sagen, dass
vielleicht doch manchmal diese Diagnose zu rasch gestellt wird und alle
Schwierigkeiten diesen globalen Namen bekommen: Hyperaktivität. Das hilft
auch dann nicht den betroffenen Kindern. Sprecherin: Das hat Professor Lehmkuhl noch höflich ausgedrückt. Etwa die Hälfte der
Kinder, die Ritalin bekommen, sind überhaupt nicht hyperaktiv, so ein
amerikanischer Befund. In Deutschland liegen die Ärzte wahrscheinlich genau
so oft daneben. Aber selbst wenn die Diagnose fest steht, muss man sich über
die Therapie trotzdem noch Gedanken machen. O-Ton 10 - Professor Gerd Lehmkuhl: Die Diagnose einer hyperaktiven Störung muss nicht heißen, dass man
Medikamente gibt. Das hängt ab einmal von der Ausprägung. Das hängt auch ab
von den Auswirkungen der Schwierigkeiten und auch davon, welche anderen
Alternativen man hat, um ein Therapieprogramm mit den Eltern und dem Kind
abzustimmen. Sprecherin: Die Universität Köln hat ein psychologisches Programm entwickelt, das
zumindest einem Teil der Kinder die Medikamente ersparen kann: das „Therapieprogramm
für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten“, kurz
THOP. Oppositionelles Problemverhalten tritt oft zusammen mit Hyperaktivität
auf - die Kleinen hören nicht auf Eltern und Lehrer und verhalten sich häufig
auch aggressiv gegen andere Kinder. THOP basiert auf führenden
angelsächsischen Programmen für schwierige Kinder und zählt inzwischen selbst
zu den international am besten überprüften Behandlungen. Psychologieprofessor
Manfred Döpfner von der Kölner Kinderpsychiatrie ist einer der geistigen
Väter des Programms. In der Therapie achten er und seine Kollegen vor allem
auf so genannte Teufelskreise, in denen sich hyperaktive Kinder und ihre
Eltern oft verfangen. Zum Beispiel beim Dauerbrenner Hausaufgaben. O-Ton 11 - Professor
Manfred Döpfner: Typischerweise passiert dann folgendes: Dass die Kinder, schon mal
aufgrund ihrer Tendenz, eher unruhig zu sein, ihrer Aufmerksamkeitsschwäche,
hören gar nicht richtig zu, darauf nicht eingehen. Also, sie fangen nicht mit
den Hausaufgaben an. Dann geht es weiter. Mutter wiederholt und wird immer
lauter in ihrer Stimme, dass sie jetzt mit den Hausaufgaben beginnen soll,
und Kind stellt irgendwie die Ohren auf Durchzug, weil Hausaufgaben ja auch
was unangenehmes ist, und wenn man die um 15 Minuten nach hinter verschieben
kann, ist das schon einfach erst mal entlastend. Sprecherin: Allerdings währt die Freude nur kurz. Bald droht die Mutter mit
massiven Konsequenzen, ohne vorher zu überlegen, ob sie die überhaupt
durchsetzen kann. O-Ton 12 - Professor
Manfred Döpfner: Und dann kommt man an einen Punkt, wo man nicht mehr weiß, wie es
weitergeht als Eltern. Man hat eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder
man wird wirklich sehr massiv aggressiv, körperlich aggressiv oder auch
verbal sehr verletzend dem Kind gegenüber. Oder man gibt einfach nach, das
heißt, die Hausaufgaben werden erst einmal nicht gemacht. In beiden Fällen
machen die Kinder äußerst ungünstige Erfahrungen. Entweder sie lernen am
Vorbild der Eltern, am Modell der Eltern, wie man Probleme löst, wenn man der
Stärkere ist, nämlich mit Gewalt, probieren es bei der kleinen Schwester aus
und siehe da, es funktioniert erst mal. Oder auch auf der Straße. Oder sie
machen die Erfahrung, dass man unangenehme Dinge - Hausaufgaben - dadurch
sich denen entledigen kann, indem man die Ohren lang genug auf Durchzug
stellt, unruhig ist, verweigernd ist oder einfach aus dem Feld geht. Also die
Eltern erziehen damit unfreiwilligerweise die Kinder zu noch unruhigerem,
noch unaufmerksamerem und auch oppositionellem, verweigerndem Verhalten. Sprecherin: Wenn sich Eltern und Kinder in diesem Teufelskreis bewegen, hat das
noch eine weitere, nicht minder fatale Konsequenz. O-Ton 13 - Professor
Manfred Döpfner: Wenn die Kinder mal das tun, was sie tun sollen, ist man ja so froh,
dass der das macht, und so entlastet, dass man jetzt endlich das tun kann,
was die ganze Zeit liegen geblieben ist. Wenn man das so ein bisschen
holzschnittartig sagt Also, der Abwasch kann endlich mal gemacht werden und
der Vater darf die Zeitung weiterlesen. Dann macht man diese andere
Tätigkeit, wendet sich eigentlich nicht dem Kinde zu. Was dazu führt, dass
angemessene Verhaltenstendenzen oder halbwegs angemessene Verhaltenstendenzen
nicht unterstützt und nicht verstärkt werden. Sprecherin: Das Kind hat somit keinen Grund, die Hausaufgaben in Zukunft zu
machen. Es bringt ihm ja nichts. Und bald haben die Eltern wieder Grund, sich
über die Verweigerungshaltung des Kindes aufzuregen. Bald sehen sie nur noch
Probleme. Hier setzt die Therapie als erstes an. Die Eltern sollen wieder
lernen, auch die guten Seiten zu sehen. Jeden Abend sollen sie überlegen, was
heute gut geklappt hat und was ihnen an ihrem Nachwuchs gefällt. Die
Therapeutin Tanja Wolff Metternich: 0-Ton 14 - Tanja Wolff Metternich: Die Wirkung ist, dass den Eltern tendenziell mehr und mehr positives
wieder auffällt oder überhaupt einfällt, dass sie sich darauf konzentrieren,
dass sie das sammeln, vor allem aber ist es sehr günstig, dass sie es ihren
Kindern sagen. Dass es am Ende des Tages, auch wenn es vorher Konflikte
gegeben hat, noch mal einen Punkt gibt, wo gerade bewusst schöne Dinge
angesprochen werden. Sprecherin: Manchmal verschreiben die Therapeuten auch eine so genannte Spaß- und
Spielzeit - ohne Vorschriften. Das Kind darf mit den Eltern spielen, was es
will. Viele Väter und Mütter waren angenehm überrascht, ihr Kind nicht nur
immer als Trotzkopf zu erleben. Dennoch kommen sie nicht darum herum, im
Alltag auch Anweisungen zu geben. O-Ton 15 - Professor
Manfred Döpfner: Stellen Sie eine Aufforderung nur dann, wenn Sie in der Lage sind, sie
auch umzusetzen. Wenn Eltern diese Regel beherzigen, aber auch Lehrer und
andere Bezugspersonen, das bezieht sich nicht nur auf Eltern, dann reduziert
sich nach unserer Erfahrung der Anteil der Aufforderungen um 50, 60 Prozent. Sprecherin: Die Mutter oder der Vater muss also da sein und darauf bestehen, dass
die Hausaufgaben, oder was sonst gerade anliegt, erledigt werden. Kooperiert
das Kind, ist ein Lob oder eine kleine Belohnung fällig. Menschen machen nun
mal eher das, was sich für sie auszahlt. Das ist die banale, aber häufig
missachtete Grundregel der Verhaltenstherapie. Zu dieser wissenschaftlich am
besten abgesicherten Therapierichtung zählt das THOP. Wenn Lob alleine nicht
reicht, greifen die Kölner Therapeuten zu einem besonderen Hilfsmittel. Einem
Blatt Papier, auf dem Punkte eine Schlange bilden. O-Ton 16 - Tanja Wolff Metternich, Lars, Mutter: Lars: Da sammelt
man Punkte und dann kann man was bauen. Lego. Wolff Metternich: Was
wär’ denn, wenn Du keine Punkte hast. Das hatten wir fast noch nie. Du hast
eigentlich immer Punkte gesammelt. Was wär’ denn, wenn Du weniger hast? Lars:
Dann kann ich auch weniger bauen. Wolff Metternich: Und wenn Du mehr
hast? Lars: Dann kann ich mehr bauen. Wolff Metternich: Jetzt
gucken wir mal, wie viele hast Du denn insgesamt geschafft dieses Mal? Da ist
noch ein Blatt. Zähl doch mal. Lars: Drei, vier, fünf (zählt
schweigend) Sprecherin: In der Therapiestunde kann Lars die Punkte in Legosteine eintauschen
und gleich etwas damit bauen. O-Ton 17 - Tanja
Wolff Metternich, Lars, Mutter: Lars: 34. Wolff Metternich: Das ist ja schon eine ganze Menge. Und
die Mama hat ja eben gesagt, morgens kannst Du Punkte bekommen. Was musst Du
denn morgens schaffen, damit Du Punkte bekommst? Zum Beispiel heute hast Du
noch einen gekriegt. 30, steht hier. Was hast Du denn dafür geschafft? Lars:
Anziehen. Wolff Metternich: Aha. Wie viele kriegst Du, wenn Du dich
angezogen hast? Wie viele Punkte? Lars: Einen. Wolff Metternich:
Aha, dann hast Du dich ganz, ganz oft angezogen. Sieht so aus. Sprecherin: Auch für andere lästige Aktivitäten bekommt Lars von seiner Mutter
Punkte zugeteilt. O-Ton 18 - Mutter von Lars: Für Sachen wegräumen, also, dass er seine Sachen wegräumt, wenn er
sich dann angezogen hat. Also er muss sich bis zu einer gewissen Zeit
angezogen haben und halt, wenn er die Toilette abdrückt, da kriegt er noch
einen Punkt für, so am Vormittag und wenn er bis dahin das nicht geschafft
hat, dann bekommt er halt keine Punkte. Sprecherin: Aber ist so ein Belohnungssystem nicht eher Dressur als Erziehung? Und
verpuffen nicht alle Erfolge in dem Moment, in dem die Belohnungen wieder
abgesetzt werden? Schließlich können die Eltern nicht bis ins
Erwachsenenalter ständig Punkte verteilen. Kommt drauf an, meint Stephanie
Schürmann, eine andere Psychologin der Schwerpunkt-Ambulanz. O-Ton 19 - Stephanie Schürmann: Was damit aber bewirkt werden soll, ist, dass im Grunde genommen sich
die Interaktion, also die Beziehung zwischen Kind und Elternteil wieder
verändert. Das heißt, die Eltern auf diese positiven Sachen achten und die
auch wirklich würdigen, loben, verstärken. Und dieses Kind merkt: Wenn ich
mich so verhalte, wie es sein soll, sind meine Eltern mit mir zufrieden und
eigentlich will das jedes Kind. Und wenn auf dieser Ebene etwas stattgefunden
hat, dass sich die Interaktion verändert und beide Teile zufriedener sind,
dann wird auch oft dieser Punkteplan mit der Zeit überflüssig und Eltern und
Kinder vergessen den und es bleibt trotzdem konstant gut, aber es muss auch
diese Verhaltens- und dann auch die Beziehungsebene geben. Und wenn sich auf
der Beziehungsebene nichts verändert, dann bleibt es mechanisch und dann
wären die Probleme auch sofort wieder da, wenn man es absetzen würde. Sprecherin: Die Kölner Therapeuten empfehlen allerdings nicht nur Lob und
Belohnungen. Sie scheuen auch vor Strafen nicht zurück - auch wenn die in der
heutigen Pädagogik nicht sehr populär sind. O-Ton 20 - Stephanie Schürmann: Das heißt, nicht die Härte der Strafen sozusagen ist das, was eine
Erziehung steuert, sondern dass es dauerhaft gemacht wird, kontinuierlich
gemacht wird und auch, dass es sinnvoll damit im Zusammenhang steht. Also
einfaches Beispiel: Glas wird wegen Zappeligkeit, hab’ wieder nicht
aufgepasst, umgeschüttet, dann sollte das Kind versuchen, das selber
wegzuwischen, so gut es vom Alter her halt geht. Das heißt, es soll seinen
Schaden selber wieder wegmachen. Unangemessen wäre es, eine Woche
Stubenarrest zu geben dafür, das würde man auch nicht - wie wir dann halt
sagen - durchhalten können. Und wäre dann natürlich wieder schlecht, man
hätte was angedroht, was nicht umgesetzt wird in die Tat. Sprecherin: Wenn Lob und Strafe etwas bewirken sollen, müssen sie schnell
erfolgen. Gerade hyperkinetische Kinder reagieren auf sofortige Konsequenzen.
Professor Döpfner hat dafür ein überraschendes Beispiel: O-Ton 21 - Professor
Manfred Döpfner: Wenn man mit diesen Kindern Gameboy spielt, dann wird man überrascht sein,
wie ausdauernd sie sind, wie konzentriert sie sind, wie wohl geordnet sie
sind. Gameboy oder andere Computerspiele ist eine Situation, da erfolgen
positive und negative Konsequenzen in Millisekunden-Bruchteilen. Also wenn
Sie den falschen Daumen drücken, (woing, woing, woing) verlieren Sie ein
Leben. Wenn Sie richtig drücken, kommen Sie in die nächste Stufe weiter. Und
da sind Kinder extrem gut und auch hyperkinetische Kinder können das sehr gut
steuern. Sprecherin: Im wirklichen Leben lassen Konsequenzen oft viel zu lange auf sich
warten. O-Ton 22 - Professor
Manfred Döpfner: Wenn dann nach drei Monaten Problemverhalten irgendwann eine
Klassenkonferenz einberufen wird, und dann nach weiteren zwei Monaten für
drei Tage ein Ausschluss aus der Klasse erfolgt mit allen juristischen
Absicherungen, dann beeinflusst das das Verhalten des Kindes relativ wenig. Sprecherin: Trotzdem arbeiten die Psychologen sehr viel mit Lehrern und Erziehern
zusammen. Denn es nützt wenig, die Probleme nur für die Dauer der Therapiestunde
zu lösen. Wichtig ist, dass die Kinder dort besser klar kommen, wo sie
Schwierigkeiten haben und das ist neben dem Elternhaus meist die Schule. O-Ton 23 - Tanja Wolff Metternich: Es hat unglaublich großen Einfluss auf den Verlauf, in wie weit auch
andere Bezugspersonen, sprich Erzieher, Lehrer bereit sind, mitzuarbeiten
oder sogar Interventionen in ihrem Bezugssystem durchzuführen. Also man weiß
aus Studien ... dass solche Interventionen unglaublich wirksam sind, dass man
gerade verhaltenstherapeutisch Strategien in so einem Gruppensetting und in
der Schul-Natur-Situation besonders gut auch umsetzen kann, auch im
Kindergarten: Und wenn eben Leute da mitarbeiten und sich darauf einlassen
können, diese Kinder sehr profitieren und normalerweise auch die
Bezugspersonen selbst für ihr zukünftiges Arbeiten, denn es ist sehr häufig,
dass man solche Kinder in seinen Klassen oder seinen Gruppen wieder findet. Sprecherin: Hyperaktive Kinder stellen Pädagogen vor besondere Probleme. Bei ihnen
geht es nicht um eine einzelne Missetat, die der Lehrer mit einem Eintrag ins
Klassenbuch ahnden kann. Stattdessen fallen sie dauernd mit Kleinigkeiten
auf, indem sie etwa unaufmerksam sind oder aufspringen. Deswegen fortwährend
Strafen auszuteilen, hilft wenig und nimmt die letzte Lust auf die Schule.
Bewährt hat sich statt dessen eine besondere Technik, der „Wettkampf um
lachende Gesichter“. Diese Gesichter zieren Spielmarken. O-Ton 24 - Tanja Wolff Metternich: Die spielen um eine bestimmte Anzahl von Spielmarken, meistens zehn.
Dann wird eine Zeit definiert, etwa eine Schulstunde. Und jedes Mal, wenn das
Kind aufsteht, also etwas macht, was es nicht soll, eigentlich, nimmt sich
der Lehrer eine von diesen Spielmarken, sagt dem Kind aber: die anderen neun
gehören noch dir. Wenn du es jetzt schaffst, bis zum Ende der Stunde sitzen
zu bleiben, sind das deine. Dann kannst Du die mit in die Therapiestunde
nehmen, zum Beispiel oder irgendwie anders eintauschen. Also man muss erstens
sie nicht wieder ausdrücklich auffordern und den Namen herausstellen und lang
und breit irgendwas erklären, sondern man nimmt einfach dieses Teil weg und
das nächste Mal nimmt man eben noch ein Teil weg. Aber man kann trotzdem noch
sagen, hier, es ist also nicht schon gelaufen. Denn wenn man zum Beispiel
sagt, du darfst nachher nicht mit zum Schwimmen, dann kann sich das Kind
sagen, och, dann brauche ich mich ja überhaupt nicht mehr gut zu benehmen. Sprecherin: Das ist natürlich keine Dauerlösung. Die Kinder müssen lernen, sich
selbst in den Griff zu bekommen. Um das zu trainieren, werden sie zu ihrem
persönlichen Aufpasser ernannt. O-Ton 25 - Stephanie Schürmann: Also wo wir halt sagen, okay, Du bist wirklich so Dein eigener
Detektiv und versuchst, Dich selber zu beobachten, was Du tust. Und führst
darüber Liste. Also zum Beispiel die ganz Kleinen, die sind noch so motorisch
unruhig, die laufen im Klassenzimmer umher. Und eigentlich wollen sie das gar
nicht. Sie merken, das stört und die Klassenlehrerin schimpft, und sie wollen
eigentlich am Platz sitzen bleiben. Dass man mit denen zum Beispiel so ne
Liste macht, die sie bei sich auf dem Tisch liegen haben, was wie so eine Art
Knoten im Taschentuch ist. Alleine die Liste auf dem Tisch erinnert dieses
Kind, ich will auf meinem Platz sitzen bleiben. Und dass er dann pro Stunde
für sich selber abzeichnet: Habe ich es geschafft, mein Ziel, ja oder nein? Sprecherin: Die Antwort wird dann in die Liste, den so genannten Detektiv-Bogen
eingetragen. Beispielsweise in der Zeile: „Super“. „Beweis“: Ganze Stunde
sitzen geblieben. O-Ton 26 - Stephanie Schürmann: Und kommt dann mit dieser Liste halt in die Therapiestunde und wir
versuchen, das natürlich sehr zu verstärken, wenn er das geschafft hat. Oder
wenn er es nicht gut schafft, Hilfen zu überlegen. Kannst Du vielleicht
Deinen Nachbarn, könnte der Dir helfen, wenn er merkt, dass Du aufstehen
willst, dass er Dich schnell anstupst: Bleib doch lieber sitzen. Sprecherin: In der Regel dauert die Behandlung bei THOP ein halbes oder ein
dreiviertel Jahr. Den meisten Kindern hilft sie dauerhaft, wie Döpfner und
seine Kollegen bei Nachuntersuchungen bis zu fünf Jahre später festgestellt
haben. O-Ton 27 - Professor
Manfred Döpfner: Mehr als die Hälfte der Kinder profitierten sehr stark, sowohl nach
dem Urteil der Eltern, etwas weniger nach dem Urteil der Lehrer, da waren es
rund vierzig Prozent, so stark, dass immer noch Symptome zwar da waren, aber
nicht mehr in dem klinischen Bereich, also nicht mehr massive Auffälligkeiten
waren. Sprecherin: Allerdings: Die psychologische Behandlung allein kann nicht allen
helfen. Bei etwa einem Drittel der Kinder reicht sie nicht aus. Dann geben
auch die Kölner Ritalin. Sie verordnen es sogar von Anfang an, wenn die
Probleme zuhause und in der Schule bereits so massiv sind, dass schnell etwas
geschehen muss. O-Ton 28 - Professor
Manfred Döpfner: Eine Nichtbeachtung von medikamentösen Behandlungsalternativen halte
ich sogar für einen Kunstfehler. Weil auch unsere und andere Studien zeigen -
ich würde ja gern anderes berichten - dass wir mit der Verhaltenstherapie
auch an Grenzen stoßen. Und es sieht so aus, dass die, die besonders heftig
davon betroffen sind, die Kinder und Jugendlichen, denen wirklich damit
geholfen werden kann. Sprecherin: Der Nutzen übersteigt in den Augen der Kölner die häufig
dramatisierten Risiken. Studien haben inzwischen bewiesen, dass so behandelte
Kinder sich keineswegs wie oft behauptet an Psychomedikamente gewöhnen - im
Gegenteil: Sie werden später seltener drogenabhängig als unbehandelte
Hyperaktive. Auch die Warnung, Ritalin könne später Parkinson auslösen,
überzeugt Lehmkuhl derzeit nicht. O-Ton 29 - Professor Gerd Lehmkuhl: Es sind ja Versuche von Ratten und es sind bislang wenige Tiere, wo
eine bestimmte Veränderung gefunden wurde in der Nervenzellstruktur, die
möglicherweise in einem späteren Alter dann zu Parkinson führen könnte. Aber
es gibt auch ganz andere Theorien dazu, die besagen, dass diese Veränderungen
nicht automatisch mit einem Parkinson in Beziehung gebracht werden können.
Das andere ist, dass solche Theorien von Tiermodellen ausgehen, insofern auf
den Menschen nur begrenzt übertragen werden können. Und es gibt keine Daten
von Menschen selber, obwohl das Präparat ja schon seit vielen Jahrzehnten auf
dem Markt ist, wo eine Parkinson-Erkrankung gefunden wurde. Insofern sprechen
die klinischen Daten dagegen, auch das Nebenwirkungsprofil spricht dagegen. Sprecherin: Aber brauchen die Kinder auch noch eine psychologische Betreuung, wenn
sie schon Medikamente bekommen? Eine große amerikanische Studie kam zum
Schluss: Verhaltenstherapie plus Medikamente hilft nicht viel besser als nur
das Medikament. Trotzdem rät Professor Lehmkuhl zusätzlich zum
Psychoprogramm. O-Ton 30 - Professor Gerd Lehmkuhl: Psychostimulantien wirken nur so lange, wie man sie gibt. Das heißt,
sie haben keine heilende Wirkung. Sie wirken nur auf das Symptomspektrum. Sprecherin: Medikamente lindern zwar die Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit, aber
sie bringen den Kindern nicht bei, wie sie mit ihren Mitmenschen besser
auskommen können. O-Ton 31 - Professor Gerd Lehmkuhl: Wenn man zum Beispiel weitere Verhaltensmerkmale wie Aggressivität
oder Interaktionsschwierigkeiten auch in der Schule behandeln möchte, dann
kommt man mit der Medikation alleine nicht hin. Zu sagen das schnellste und
billigste Mittel ist die Medikation wäre eine fatale Reduktion unserer
Maßnahmen nur auf diese Pharmakobehandlung und das würde ich weder den
betroffenen Kindern noch ihren Familien wünschen, denn dann kommen andere
Bereiche deutlich zu kurz. O-Ton 32 - Mutter der Zwillinge: Das ganze Zusammenspiel von Schule und hier das und Medikament, das
wirkt so ineinander, dass die doch etwas besser drauf sind, als wenn sie das
nicht bekämen. Es ist zwar zum Teil aufwendig und alles mögliche, aber ich
denke, es wird ihnen - Niklas, Niklas nicht tun - es wird ihnen später
hoffentlich doch zugute kommen. Sonst würde ich ja nicht hierhin kommen (Kind
singt noch ein bisschen). Sprecherin: Auch wenn die lange Psychotherapie vor allem dem Kind und seinen
Eltern viel Arbeit macht, ist sie doch notwendig. Das zeigen Langzeitstudien
mit unbehandelten Kindern. O-Ton 33 - Professor
Manfred Döpfner: Früher hieß es immer wieder, das Problem wächst sich ja so und so aus,
so mit der Pubertät. Das kann man heute auf keinen Fall mehr unterschreiben.
Was sich halbwegs regelmäßig vermindert, auch wohl spontan vermindert, also
ohne spezifische Intervention, ist die motorische Unruhe. Sprecherin: Aber sich konzentrieren und ihr Verhalten kontrollieren können die
Herangewachsenen deswegen noch lange nicht. Etwa die Hälfte bleibt
vergesslich, ist nicht sehr zuverlässig und kann sich ihre Zeit schlecht
einteilen. O-Ton 34 - Professor
Manfred Döpfner: Es ist ein erschreckend stabiles Verhalten und 40, 50 Prozent der
Kinder mindestens, die hyperkinetische Auffälligkeiten haben, haben eben auch
oppositionelles, aggressives Verhalten. Und wenn sich das im Grundschulalter
deutlich entwickelt, ist das Risiko groß, dass sie im Jugendalter auch
delinquent auffällig werden. Also wirklich Gesetze in einem Maße übertreten,
wie es nicht mehr im üblichen Rahmen ist, wie es im Jugendalter gelegentlich
dann auch passiert. Also wirklich in eine deutlich delinquente Entwicklung
hineingehen und in dem Zusammenhang auch Gefahr laufen, in delinquente
Gleichaltrigengruppen reinzukommen und dann auch in Richtung Drogenkonsum,
Alkohol- und Medikamentenmissbrauch sich zu entwickeln. Sprecherin: Mitunter kann selbst die intensive Behandlung in Köln nicht mehr viel
retten, etwa wenn sie zu spät begonnen wird. Tanja Wolff Metternich bemühte
sich vergeblich um einen Jungen, der erst kam, als die Probleme sich schon
lange zugespitzt hatten. O-Ton 35 - Tanja Wolff Metternich: Der war schon sehr früh als ganz kleines Kind auch sehr aggressiv. Er
ist hierher gekommen erst mit 13, wo schon sehr viel im Argen lag. Da war die
Familienkonstellation insofern schwierig, dass da, das war eine sehr gut
situierte Familie, sehr viel, sehr lange gedeckt worden ist. Also nicht als
ganz so schwierig angesehen worden ist, das war auch eine Familie, die sehr
viel Sachen irgendwie geregelt hat. Also er konnte zum Beispiel im
Kindergarten dann trotzdem bleiben, weil man jemanden kannte. Und eigentlich immer
wieder Sachen zugedeckt worden sind und nicht wirklich angeschaut worden ist,
was mit ihm war. Sprecherin: Doch Wegsehen löste das Problem nicht. Es wurde immer schlimmer. O-Ton 36 - Tanja Wolff Metternich: Er hat mit Drogen gedealt, er hat Waffen sich irgendwo beschafft und
verkauft, auf dem Schulhof, hat Hehlerware verkauft, also wirklich heftige
Dinge, wo wie gesagt immer noch versucht wurde, das zu übermanteln. Wo sich
das aber so entwickelt hat, dass er später nicht aufhörte und im
Jugendstrafvollzug sich noch befindet. Sprecherin: Stephanie Schürmann hatte in einem anderen Fall mehr Glück. Auch
dieser Junge brachte schwere Probleme mit. Obwohl er gut durchschnittlich
begabt war, wollte er in der Grundschule überhaupt nicht mitmachen und
erschwerte den Unterricht erheblich. Seine Verhaltensprobleme waren sehr
ausgeprägt. O-Ton 37 - Stephanie Schürmann: Ich erinnere mich an eine Situation, dass ich mit dem unter dem Tisch
gesessen habe, dass mir Haare mal fielen, weil ich mit ihm in Rangeleien war,
weil ich von ihm was erwartet habe. Sprecherin: Aber diesmal stimmten die Voraussetzungen. Die Eltern zogen bei der
Therapie mit, ebenso die Schule. O-Ton 38 - Stephanie Schürmann: Er hat sich im Zaum an den Stellen, wo es notwendig ist und es hat bei
ihm auch keinerlei dissoziale Entwicklung stattgefunden, was bei der
Vorgeschichte auch durchaus denkbar gewesen wäre. O-Ton 39 - Zwillinge, Mutter: Kinder trällern unentwegt. Mutter: Zieh’ die Jacke an. Die Würfel
bleiben auch hier. Es wird nichts mitgenommen. Sprecherin: Die heutige Therapiestunde geht zu Ende. Kaum
eine andere psychische Störung bei Kindern ist so schwer zu behandeln wie
Hyperaktivität. Darum sind die Erfolge von THOP gut, obwohl das Programm nicht
allen Kindern helfen kann. Inzwischen arbeiten viele niedergelassene
Verhaltenstherapeuten in Deutschland nach dem Kölner Konzept. Doch es gibt
längst nicht genügend Spezialisten für all die Kinder, die diese
Unterstützung bräuchten. O-Ton 40 - Zwillinge, Mutter: So, tschüss. Tschüss. Wir sehen uns morgen.
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