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Intellektueller Höhenflug
von Jochen Paulus
(Wochenpost, April 96)

Die Psychologen stehen vor einem Rätsel: Kann es sein, daß die Menschheit seit vielen Jahrzehnten immer schlauer wird, ohne daß das jemand aufgefallen wäre? Während sich bei jeder Olympiade neue Rekorde körperlicher Leistungen zeigen, hat bisher noch niemand behauptet, die Erdbevölkerung würde auch geistig immer fähiger. Im Gegenteil: Die Pädagogen klagen wie seit eh und je über die intellektuellen Fähigkeiten ihrer Zöglinge. Doch in Wirklichkeit sind die Schüler schlauer als die Lehrer – zumindest wenn man Intelligenztests glauben darf.

Seit es sie gibt, werde die Werte der Getesteten kontinuierlich besser. Das gilt für europäische Länder ebenso wie für die USA und Kanada, aber auch für Japan, Australien oder Neuseeland. Die verläßlichsten Daten kommen aus Staaten wie Belgien und Israel, wo seit Jahrzehnten alle jungen Männer vor dem Wehrdienst auf ihre Intelligenz gemustert werden. In einer noch unveröffentlichten Studie kommt das Kieler Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften zu ähnlichen Ergebnissen für Deutschland

Im Schnitt ist die gemessene Intelligenz von einer Generation zur nächsten um 15 Punkte gestiegen. Das ist ein enormer Sprung, der Unterschied zwischen einem normal Begabten und einem geistig leicht Behinderten beträgt gerade mal das Doppelte.

Naheliegende Erklärungen scheitern. Die später Geborenen verdanken ihren Vorsprung nicht etwa größerem Wissen, mit dem die Informationsgesellschaft ihre Mitglieder heute reichlicher denn je versorgt. Die stärkste Zunahme zeigt sich nämlich in Tests, die entwickelt wurden, um reine Intelligenz zu messen, unbeeinflußt von aller Bildung. So besteht der Raven-Test aus Reihen von komplizierten Mustern. Die Untersuchten müssen die passende Fortsetzung finden, was nur mit logischem Denken gelingt. Auch an größerer Vertrautheit mit solchen Aufgaben kann es nicht liegen: In den letzten Jahren wurde eher weniger getestet, doch die Intelligenz nahm weiter zu.

Inzwischen müßte es vor Intelligenzbestien nur so wimmeln. Wissenschaftler fragen sich deshalb, ob die Zunahme tatsächlich real ist. Angeführt werden die Zweifler ausgerechnet von dem Politologen James Flynn, nach dem der Effekt benannt ist. Der Professor der Universität Otago in Neuseeland rechnet zurück: Vor hundert Jahre hätte der durchschnittliche Brite demnach einen Intelligenzquotient von bestenfalls 60 Punkten gehabt – viel zu wenig, um auch nur die Regeln des damals populären und nicht ganz unkomplizierten Kricket zu verstehen. Seine Schlußfolgerung: Intelligenztests messen etwas anderes als die Fähigkeit, die man üblicherweise Intelligenz nennt und die es Menschen beispielsweise ermöglicht, ein Kricketspiel zu verstehen.

Irgend etwas Wichtiges aber müssen Intelligenztests messen. Sonst wären sie nicht nachgewiesenermaßen in der Lage, Berufserfolg so gut vorherzusagen wie sonst nur noch Schulnoten. Die geheimnisvolle Zunahme läßt sich also nicht einfach als Kuriosität ad acta legen. Deshalb geht die Suche nach Erklärungen weiter.

Ein Forscher vermutete, daß die Jüngeren davon profitieren, daß sie in einer lockereren Gesellschaft aufgewachsen sind: Sie würden bei schwierigen Fragen einfach raten und so ihr Ergebnis durch Zufallstreffer verbessern, während ihre streng erzogenen Eltern so lange grübelten, bis ihnen schließlich die Zeit ausging. Die Theorie klang gut, doch eine Analyse der Testantworten hat sie inzwischen widerlegt.

Als wenig überzeugend erwies sich bei näherem Hinsehen auch die Idee, daß die Gehirne dank besserer Nahrungsversorgung schlauere Lösungen liefern. James Flynn: "Daß jede Nation die Ernährung gerade um die richtige Menge verbessert hat, nicht zuviel und nicht zuwenig, Jahrzehnt um Jahrzehnt, scheint unwahrscheinlich."

Auch die Autoren eines vor kurzem erschienenen Berichts der amerikanischen Psychologenvereinigung konnten nur noch einmal die allgemeine Ratlosigkeit der Branche zusammenfassen.

Vielleicht haben die Forscher allerdings Glück und das vorerst jüngste Rätsel des Phänomens erledigt das ganze Problem: In Schweden deuten erste Daten darauf hin, daß der Intelligenzquotient dort nicht mehr weiter zunimmt. Warum das so ist, weiß niemand. Möglicherweise endet der intellektuelle Höhenflug der Menschheit so unerklärt, wie er begann.

Was ist Intelligenz?

Psychologen tun sich schwer anzugeben, was Intelligenz eigentlich ist. Ein neuer Bericht der amerikanischen Psychologenvereinigung vermerkt: "Als zwei Dutzend prominente Theoretiker gebeten wurden, Intelligenz zu definieren, lieferten sie zwei Dutzend mehr oder weniger unterschiedliche Definitionen." Die pragmatische Variante lautet: Intelligenz ist das, was ein guter Intelligenztest mißt.

Erblich, aber förderbar

Lange Zeit war die Frage heftig umstritten, doch Studien vor allem an getrennt aufgewachsenen Zwillingen beweisen immer wieder: Intelligenz ist in hohem Maß erblich. Die familiäre Umgebung spielt dagegen keine große Rolle. Wie intelligent Adoptiveltern sind, hat auf die Intelligenz der angenommenen Kinder fast keinen Einfluß. Trotzdem hängt Intelligenz auch von Umweltfaktoren ab und läßt sich etwa durch Programme für benachteiligte Schüler fördern. Es ist allerdings unklar, ob der Intelligenzquotient auch hoch bleibt, wenn das Förderprogramm vorbei ist.

 

 

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* E-Mail an J. Paulus

Unterernährung macht dumm

Vor allem in armen Ländern bleiben viele Kinder in ihrer geistigen Entwicklung zurück, weil sie nicht genügend zu essen bekommen. In einem klassischen Experiment in Guatemala gelang es Forschern, mit einem eiweißhaltigen Getränk die Intelligenz von Dorfkindern zu erhöhen. Unterernährung wirkt möglicherweise indirekt: Die Kinder haben weniger Energie, ihre Umgebung zu erkunden, zu lernen und sich mit anderen auseinanderzusetzen. Dadurch fehlen ihnen Erfahrungen, die für eine normale Entwicklung nötig wären.

Blei im Blut

Blei schadet der Intelligenz. Das zeigen Studien an Kindern, die in der Nähe von Fabriken aufwuchsen, in denen Blei geschmolzen wurde. Je mehr Blei die Kinder im Blut hatten, desto schlechter schnitten sie in Intelligenztests ab. Es gelang nicht, einen Grenzwert zu finden, ab dem Blei nicht mehr schaden würde. Amerikanische Wissenschaftler fürchten, daß noch immer Kinder gefährdet sind, vor allem in Innenstädten.


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