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Noch normal oder schon ,verrückt'? - |
SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst Redaktion: Sonja
Striegl Regie: Tobias Krebs Sendung: Mittwoch,
24. April 2013, 08.30 Uhr, SWR2 Sie können diesen Beitrag
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Kleidung, Möbel und Geschenke auf Pump gekauft, weit mehr als sie sich
leisten konnte. Sie wurde mehrmals zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil
sie immer weiter einkaufen ging, aber nicht bezahlte. In einem Kaufhaus
erzählt sie von dieser Zeit. O-Ton 1 - Sieglinde
Zimmer-Fiene: Dieses Gefühl des
Kaufens ist schon so irgendwo, du bist wie in Watte gepackt, und das ist
schon irgendwo wie eine Trance-Attacke. Sprecherin: Ist sie einfach nur
weiter gegangen als die Vielen, die regelmäßig ihr Bankkonto überziehen? Oder
leidet sie an einer psychischen Störung, die bisher in keinem
Krankheitskatalog steht, aber dort vielleicht hineingehört? O-Ton 2 - Sieglinde
Zimmer-Fiene: Man ist schon da, man ist nicht
plemplem im Kopf. Aber dieser Kaufakt, der geht irgendwo so ab, als ob der
schon in einem eingebrannt ist. Man macht immer das Gleiche um die Sachen zu
kriegen und dieser Kaufakt, der muss eben ganz schnell gehen. Sprecherin: Solche Fragen stellen sich bei vielen
extremen Verhaltensweisen und Empfindungen. In letzter Zeit wurden sie
besonders heftig diskutiert. Denn im Mai wird die neue Fassung des weltweit
wichtigsten Diagnose-Handbuchs für psychische Störungen veröffentlicht. Sprecher: „Noch normal oder schon ,verrückt'? -
Die Diagnose-Bibel der Psychiatrie erscheint neu". Eine Sendung von
Jochen Paulus. O-Ton 3 - Astrid
Müller: Kaufsucht ist ein geläufiger, griffiger
Begriff, gegen den ich im Prinzip nichts habe. Aber nach unserer Erfahrung
ist es bisher halt noch ungeklärt, wie das zu klassifizieren ist. Viele
Kollegen meinen, gerade im deutschsprachigen Raum, es sei eine
Verhaltenssucht. Andere Kollegen, gerade aus Amerika überlegen, ob das
vielleicht eine Art von Zwangserkrankung sein könnte. Der überwiegende Teil
der amerikanischen, kanadischen, französischen Kollegen und auch unsere
Gruppe geht eher davon aus, dass es sich wahrscheinlich am ehesten um eine
sogenannte Impulskontrollstörung handelt. Sprecherin: Was in den Medien schlicht Kaufsucht
heißt, ist ein schwer fassbares Phänomen für Experten wie Dr. Astrid Müller,
Leitende Psychologin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der
Medizinischen Hochschule Hannover. Sucht? Zwang? Unfähigkeit, die eigenen
Impulse zu unterdrücken? Oder vielleicht doch gar keine Krankheit? Willkommen
in der Vexier-Welt der psychischen Störungen. Wo fängt die eine Störung an,
wo hört die andere auf, und was ist überhaupt keine Störung, sondern ein
normales Lebensproblem? Um solche Fragen haben Experten in den letzten Jahren
hart gerungen. Die Kaufsucht hat es wieder einmal nicht in das dicke
„Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen", kurz
DSM, geschafft. Dr. Markus Jäger von der Universität Ulm, der auch als
Oberarzt arbeitet und sich in Fachaufsätzen immer wieder mit Problemen der
Diagnostik auseinandersetzt, bedauert das nicht. O-Ton 4 - Markus
Jäger: Impulskontrollstörungen
ist auch etwas, was überhaupt nicht, oder Spielsucht, das sagt noch überhaupt
nichts aus. Sondern ich muss sagen, in welchem Kontext ist das? Und ist das
wirklich eine Krankheit? Sprecherin: Das amerikanische „Diagnostic and
Statistical Manual of Mental Disorders", abgekürzt „DSM" regelt
zwar nicht direkt, was in Deutschland als Krankheit gilt. Hier gilt die
Krankheitsklassifikation der Weltgesundheitsorganisation. Aber deren Autoren
arbeiten eng mit den DSM-Spezialisten zusammen. Und eine der Baustellen aller
„Diagnosemacher" sind die vielen seit Jahren geforderten
Impulskontrollstörungen alias Verhaltenssüchte. Ein Jahrzehnt lang
haben gut 500 Experten weltweit überlegt, was an den vorhandenen 300
Störungen geändert werden sollte und welche ergänzt werden müssen. Viele
angedachte Vorgaben für neue oder veränderte Diagnosen wurden in Kliniken und
Praxen schon einmal ausprobiert. Hans-Ulrich Wittchen, Professor für
Klinische Psychologie an der Universität Dresden saß in einer der 13
Arbeitsgruppen, die jeweils eine Gruppe von Störungen bearbeiteten. Er ist
zuständig für Angststörungen. O-Ton 5 - Hans-Ulrich
Wittchen: Im Mai sind es fast fünf Jahre. In diesen
fünf Jahren, in denen ich in diesem Prozess mit drin stecke, habe ich vier
Bücher, ungefähr 100 Artikel zu diesem Thema geschrieben, verfasst,
Untersuchungen gemacht. Sprecherin: Die Arbeit wurde von heftigen
Diskussionen in der Fachwelt begleitet. Hauptvorwurf: Die DSM-Autoren
erklären immer mehr Menschen für psychisch krank. Die Internetsucht und die
Kaufsucht wurden zwar nicht aufgenommen. Doch andere umstrittene Störungen
schafften es, etwa die Binge-eating-Störung. Zwölf Ess-Anfälle in drei Monaten
seien nun nicht mehr Ausdruck von Gefräßigkeit, sondern eine Störung, empörte
sich ein amerikanischer Psychiatrie-Professor. Andere befürchten, dass nun
jedes vierte Kind eine neue „Gefühlsregulationsstörung" bescheinigt
bekommt, weil es oft Wutanfälle hat und seine Stimmung stark schwankt. Auch
unter den DSM-Autoren selbst waren viele Vorschläge für neue Krankheiten
umstritten. Da ging es beispielsweise um Menschen, die ihre Wohnungen mit
alten Zeitungen und kaputten Geräten vollmüllen, weil sie sich von nichts
trennen können. O-Ton 6 - Hans-Ulrich
Wittchen: Wir nehmen mal diese
Diskussion, die ich persönlich sehr gut mit erlebt habe, die Frage der
sogenannten Hoarding-Disorder, also das Messie-Syndrom, wie es viele bei uns
nennen. Soll das eine eigene psychiatrische Störungskategorie werden? Ich
persönlich würde sagen: Ich habe solche Patienten nicht, ich habe sie nie
gesehen. Schon gar nicht glaube ich, dass es für die eine besondere Therapie
oder eine biologische Grundlage gibt. Also nein. Auf der anderen Seite gibt
es ernsthafte, sehr solide und gute Forschung, die zeigt, dass das sehr wohl
sinnvoll sein könnte, das zu machen. Sprecherin: Diese Überlegungen
setzten sich am Ende durch: Messies gibt es nun auch offiziell. Schon bei den
vorigen Neu-Auflagen haben die Verantwortlichen für das DSM auf dem Papier
etliche neue Störungen definiert. Führt das dazu, dass Ärzte bei immer mehr
Menschen eine Geisteskrankheit feststellen? Auf den ersten Blick scheint es
so. Im Jahr 2006 bekamen noch 29 Prozent der Mitglieder einer großen
deutschen Krankenkasse eine solche Diagnose, 2011 waren es schon 33 Prozent. Aber kommt der
rasante Zuwachs daher, dass Wissenschaftler sich immer neue Störungen
ausdenken? Wahrscheinlicher ist, dass früher vor allem Hausärzte viele
Depressionen, Ängste und dergleichen einfach übersehen haben. So überraschend
es klingt: Zusätzliche Störungen im Diagnosehandbuch führen oft nicht zu mehr
Kranken, versichert Wittchen. O-Ton 7 - Hans-Ulrich
Wittchen: Die Störungen, die jetzt neu hinzukommen,
sind in der Regel differenzierende Variationen, sie sind ja nicht
Neuerfindungen. Und von daher würde ich mal davon ausgehen, der Effekt von
DSM-5 auf die Häufigkeit psychischer Störungen ist gleich null. Weil wir
nicht erkennen können beim jetzigen Diskussionsstand, dass irgendeine
Diagnose hinzukommt, die beim Menschen auftreten könnte, die vorher nicht
auch schon als Fall mit einer psychischen Störung erkannt wurden. Sprecherin: Oft bekamen die Betroffenen vorher eine
andere Diagnose. Die Kinder mit Gefühlsregulationsstörung wurden etwa als
hyperaktiv diagnostiziert, die Frauen mit Essanfällen bekamen eine allgemeine
Ess-Störung bescheinigt. Und wer beim Arzt über Burn-out klagt, wird schon
jetzt behandelt, obwohl Burn-out keine anerkannte Störung ist und es mit dem
neuen DSM auch nicht wird. Denn niemand bestreitet, dass die Betroffenen
leiden. Aber ist Burn-out deshalb schon eine eigenständige Krankheit?
Experten wie Markus Jäger streiten darüber seit Jahren. O-Ton 8 - Markus
Jäger: Das Burn-out Syndrom, das ist für mich
so eine ganz typische Fehlentwicklung. Was heißt das? Ich bin am Arbeitsplatz
erschöpft. Das ist ein Phänomen des Arbeitsplatzes. Das ist noch keine
Krankheit. Sprecherin: Aber warum eigentlich? Schlecht genug
geht es den Betroffenen schließlich. Und der Begriff Burn-out leuchtet vielen
Laien ein wie kaum ein anderer Name einer psychischen Störung. Doch viele
Fachleute sind überzeugt: Burn-out ist in Wirklichkeit eine Depression. Dann
aber schadet eine eigene Bezeichnung eher. Denn mit ihr kommen Therapeuten
nicht so leicht darauf, dass hinter den Problemen vielleicht nicht nur die
Arbeitsbelastung steckt, sondern auch noch andere Ursachen. Und sie suchen
womöglich erst lange nach einer passenden Behandlung, obwohl sie die
Depression mit einem bewährten Verfahren therapieren könnten. Jäger hält
solche Spezialkrankheiten für einen Rückschritt. O-Ton 9 - Markus
Jäger: Es gab so die Monomanie-Lehre aus dem
19. Jahrhundert, wo jedes Symptom, also zum Beispiel Brandstiftung, gleich
eine psychische Krankheit war. Also die Pyromanie, also zum Beispiel das
Stehlen, die Kleptomanie. Also aus jedem Symptom hat man gleich eine
Krankheit gemacht. Sprecherin: Solche Spezialdiagnosen waren damals
allerdings das kleinere Problem. Heute gibt es zwar viele
Auseinandersetzungen um psychische Störungen, doch bis vor gut hundert Jahren
herrschte das Chaos. Viele Insassen der sogenannten Irrenanstalten hatten
überhaupt keine richtigen Diagnosen. Sie boten ein Bild, das die Psychiater
verwirrte: Jeder Patient präsentierte eine eigene Mischung aus merkwürdigen
Ideen, unerklärlichen Gefühlen und bizarren Verhaltensweisen. In der Medizin
hat ein Patient aber nicht einfach Symptome, etwa Fieber, Schüttelfrost oder
Husten. Sondern er hat eine Krankheit, etwa Lungenentzündung. In der
Psychiatrie dagegen gab es lange keine definierten Krankheiten, die hätten
Klarheit schaffen können. Einem Psychiater gelang es 1896 schließlich, dies
zu ändern: Emil Kraepelin, Direktor der sogenannten Irrenklinik Heidelberg. O-Ton 10 - Markus
Jäger: Kraepelin hat von Krankheiten
gesprochen, und hat eigentlich die These vertreten, dass es wirklich
medizinische Krankheiten sind, die anderen Krankheiten, wie der
Lungenentzündung oder den Hirnkrankheiten wie dem Schlaganfall, wie dem
Morbus Parkinson vergleichbar sind. Das Ganze kann man natürlich heute
infrage stellen. Aber durch diese Herangehensweise, die psychischen Störungen
als Krankheiten anzusehen, ist die Psychiatrie wirklich maßgeblich Teil der
Medizin geworden. Und das ist eigentlich der große Verdienst von Kraepelin. Sprecherin: Noch immer träumen viele Psychiater
Kraepelins Traum, die wahre Ordnung des Wahnsinns zu finden. Sie orientieren
sich an seiner Grundidee: O-Ton 11 - Markus
Jäger: Es gibt Krankheiten, die eine
gemeinsame Ätiologie haben, also eine gemeinsame Ursache, eine gemeinsame
Histopathologie, also einen gemeinsamen Hirnbefund und einen gemeinsamen
Verlauf. Das war das große Postulat, das ihn getragen hat. Sprecherin: Als die Fachleute vor zehn Jahren mit
der Überarbeitung des Psychiatriehandbuches DSM begannen, wollten sie einen
wesentlichen Teil von Kraepelins Versprechen einlösen. So wie Diabetes anhand
eines hohen Blutzuckerspiegels diagnostiziert wird, sollten endlich auch
Geisteskrankheiten an biologischen Merkmalen festgemacht werden, etwa
auffälligen Veränderungen in Aufnahmen des Gehirns. Dann wüsste man endlich,
welche Krankheit beispielsweise ein Patient hat, der einerseits an
Verfolgungswahn leidet wie ein Schizophrener, andererseits aber auch an
extremen Stimmungsschwankungen wie ein bipolar Erkrankter. Es hat nicht
geklappt. O-Ton 12 - Markus
Jäger: Man kann es nicht aufgrund von
biologischen Befunden trennen. Gerade zum Beispiel die bipolar affektiven
Störungen und die Schizophrenie. Es gibt gemeinsame Risikogene dafür. Und es
gibt wahrscheinlich auch von den bildgebenden Verfahren, wenn man so schaut,
was man im Gehirn gefunden hat, Befunde die mit beiden vereinbar sind. Also
da kann ich letztendlich keine klare Trennung, und da muss man heute sagen,
das Kraepelinsche Krankheitsmodell von der Einheit von Ursache, Hirnbefund
und Verlauf, das muss ich ad acta legen. Sprecherin: So müssen die Psychiater weiter anhand von
dem diagnostizieren, was sie sehen und was die Patienten ihnen erzählen. Das
ist schwierig. Lange Zeit diagnostizierten verschiedene Ärzte beim gleichen
Patienten ganz unterschiedliche Krankheiten. Das änderte sich erst
1980, als die dritte Version des DSM erschien. Erstmals wurde in langen
Listen genau festgelegt, welche Symptome ein Patient zeigen musste, um
beispielsweise als schizophren zu gelten. Seitdem stimmen die Diagnosen
verschiedener Psychiater viel besser überein, auch international. Doch es ist
nicht einfach, sinnvoll festzulegen, was eine bestimmte psychische Störung
nun exakt ausmacht. Immer wieder gibt es Pannen. Das zeigt das Beispiel der
„Somatisierungsstörung". Vielen ist eher der alte Namen der Krankheit
geläufig: Hysterie. Die Patienten klagen über körperliche Beschwerden, doch
wenn der Doktor Kopf, Bauch oder Rücken untersucht, ergibt sich kein
entsprechender Befund. Sie brauchen also eher einen Psychologen als einen
Arzt. Das zu erkennen, ist wichtig. Doch wie stark muss man über eingebildete
Symptome klagen, um als echter Fall von Somatisierungsstörung zu gelten? Das
DSM war bisher sehr strikt. Mindestens vier Schmerzsymptome wurden erwartet,
dazu zwei Magen-Darm-Symptome, ein sexuelles und ein neurologisches. Winfried
Rief, Professor für klinische Psychologie an der Universität Marburg, hat
sich mit dieser Liste auseinandergesetzt. Er arbeitet am neuen DSM in diesem
Bereich mit. O-Ton 13 - Winfried
Rief: Es wurde da über das Ziel ziemlich
hinausgeschossen, sodass der eigentliche Prototyp der Diagnose, die
Somatisierungsstörung, von kaum jemandem erfüllt wurde. Da musste man schon
halb tot sein, um das zu erfüllen. Sprecherin: Die Experten wussten schlicht nicht,
wie viele Beschwerden typische Patienten mit Somatisierungsstörung tatsächlich
äußern. In den letzten Jahren haben sie neue Daten erhoben und unternehmen
nun mit DSM-5 einen neuen Anlauf. O-Ton 14 - Winfried Rief: Jetzt werden neue Kriterien definiert,
die sind liberaler, und es gibt das neue Kriterium, dass es ausreicht, ein
körperliches Symptom zu haben, um gegebenenfalls von der körperlichen Seite
her diese Diagnose zu erfüllen. Das kann also Kopfschmerz sein oder
Bauchschmerz oder Rückenschmerz. Aber es muss halt dann noch einiges Weitere
hinzukommen: Krankheitsängste, Krankheitsverhalten, besondere
Beeinträchtigung. Und die Erkrankung muss mindestens sechs Monate vorliegen. Sprecherin: Kritiker werden dies womöglich als
Psychiatrisierung der Bevölkerung deuten. Etwa sechs Prozent können in
Zukunft eine Somatisierungsstörung bescheinigt bekommen, schätzt Rief nach
ersten Untersuchungen. Das wären knapp fünf Millionen Deutsche -mehr als in
Berlin und München zusammengenommen wohnen. Das sind viele. Aber sollte man
die Grenzen der Diagnose deshalb enger ziehen und den Klagenden nach Art
resoluter Krankenschwestern sagen, dass sie sich nicht so anstellen sollen? O-Ton 15 - Winfried
Rief: Es wird damit ein klarer Behandlungsbedarf
auch charakterisiert. Es sind behandlungsbedürftige Erkrankungen. Dazu ist
natürlich ein Diagnosesystem schon auch da, die Personen zu identifizieren,
die Behandlung in unserem Gesundheitssystem benötigen. Und wenn wir diese
Zusatzprobleme zu den körperlichen Beschwerden haben, dann können wir damit
sagen, hier ist Behandlungsbedarf. Egal ob noch eine Krebserkrankung oder
sonst etwas mit rein schwingt. Aber hier ist ein spezifischer
Behandlungsbedarf durch die psychische Belastung und Folgen, die die Symptome
auslösen. Sprecherin: Welche neuen Störungen ins
Diagnose-Handbuch aufgenommen werden, ist aber nicht nur eine
wissenschaftliche Debatte. Auch gesellschaftliche und politische Überlegungen
spielen eine Rolle. Ein Beispiel. Seit Jahrzehnten wird darüber diskutiert,
ob es als psychische Störung anzusehen ist, wenn Frauen ungewöhnlich starke
Beschwerden vor der Menstruation haben. Bei etwa fünf Prozent der Frauen
legen die monatlichen Dramen das nahe, meint Stephanie Krüger, Chefärztin am
Zentrum für seelische Frauengesundheit am Humboldt-Klinikum in Berlin. O-Ton 16 - Stephanie
Krüger: Wenn Sie also zum Beispiel in der Zeit
nicht mehr arbeiten können, wenn sie sich dauernd mit dem Ehemann streiten,
wenn sie ihre Kinder verhauen, was sie sonst nicht tun, und wenn sie sich
einfach insgesamt von der Stimmung her massiv eingeschränkt und gedrückt
fühlen. Sprecherin: Das klingt ernst genug für eine Krankheit.
Vorgeschlagen wurde sie unter dem Namen „Prämenstruelle Dysphorische
Störung" - Dysphorie bedeutet Verstimmung. Die Kritiker aber
argumentierten: Hier soll etwas ganz Normales zur Krankheit erklärt werden,
die Menstruation. Und da nur Frauen diese Krankheit bekommen können, werden
sie benachteiligt. Womöglich stellen Firmen weniger Frauen ein, wenn Ärzte
Frauen regelmäßig wegen PMDS krankschreiben. Diskriminierung von
Frauen? Da kennt sich die auf Geschlechtsunterschiede spezialisierte
Psychiatrie-Professorin aus. O-Ton 17 - Stephanie
Krüger: Ich würde davon ausgehen, dass die
Dinge, die Männer betreffen, das sage ich natürlich auch mit einem
blinzelnden Auge als Gender-Medizinerin: Wenn ein Mann an einem PMDS erkrankt
wäre oder mehrere, dann wäre diese Diagnose schneller salonfähig. Sprecherin: Im neuen Buch der Diagnosen hat die
PMDS es in den Hauptteil geschafft und ist nun eine richtige, anerkannte
psychische Störung. Deshalb wird sie in Zukunft besser behandelt werden,
prophezeit Stephanie Krüger. Hormon-Pillen verschreiben die Ärzte zwar auch
bisher schon, aber leider oft die falschen, so die Professorin. Wer kennt
sich schon mit einer Krankheit aus, die es offiziell gar nicht gibt?
Stephanie Krüger empfiehlt auch Medikamente, die ursprünglich gegen
Depressionen entwickelt wurden. Doch inzwischen vermarkten die
Pharma-Konzerne sie gegen immer mehr Störungen, auch gegen PMDS. Deshalb tobt
hier eine der heftigsten Auseinandersetzungen um das DSM: Hängt es womöglich
von den Wünschen der Pharma-Industrie ab, welche neuen Krankheiten
aufgenommen werden? Immerhin haben viele Experten in den entscheidenden
Gremien Geld von den Konzernen bekommen. O-Ton 18 - Stephanie
Krüger: Ach ja. Das Argument ist natürlich ein
Totschlagargument, das kann man immer bringen, für alles und jedes und für
jede Erkrankung. Man kann nicht einfach nur diagnostizieren um des
Diagnostizierens willen. Sondern man muss dann auch den Patienten etwas
anbieten können. Sprecherin: Tatsächlich lässt sich nicht beweisen,
dass jemals eine Krankheit aufgenommen wurde, weil die Experten von der
Industrie dafür bezahlt wurden. Misstrauen ist aber durchaus angebracht. Es
muss ja gar nicht immer eine neue Krankheit sein. Es reicht schon, wenn die
Grenzen, die bereits anerkannte Krankheiten vom gerade noch gesunden Zustand
trennen, ein bisschen verschoben werden. In der Fachwelt heißen diese Grenzen
„cut-offs" erklärt Winfried Rief. O-Ton 19 - Winfried
Rief: Es gibt einen Druck auf
Klassifikationssysteme, zum Beispiel von der Pharmaindustrie, letztendlich
die cut-offs, die Grenzwerte zur Klassifikation psychischer Erkrankungen
runter zu setzen. Damit man früher sagen kann, ja hier gibt es eine
Indikation für den Einsatz bestimmter Medikamente. Sprecherin: Unter den Autoren des vorigen DSM waren
zahlreiche Fachleute, die viel Geld von der Pharma-Industrie bezogen. Nach
heftiger Kritik daran hat die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung, die
das DSM verantwortet, reagiert. An der Neufassung durften nur Fachleute
mitarbeiten, die während dieser Zeit auf fette Honorare verzichten. Maximal
zehntausend Dollar jährlich sind erlaubt - für einen Psychiatrie-Professor
ist das nicht viel. Die Pharma-Konzerne sind
aber nicht die Einzigen, die ihre eigenen Vorstellungen davon haben, welche
psychische Störungen es offiziell geben sollte. In den DSM-Gremien sitzen
nicht mehr nur Psychiater wie ganz am Anfang 1952, als das erste Handbuch
erstellt wurde, sondern auch Psychologen, Sozialarbeiter und verschiedene
Arten von Ärzten. Vor allem die Hausärzte haben in ihren Praxen wenig Zeit
und können sich auch nicht in die Feinheiten der vielen psychischen Störungen
im DSM einarbeiten. Sie müssen ja noch zahllose andere Krankheiten im Kopf
haben. Das wird zum Problem, wenn ein Patient beispielsweise nicht nur über
seine depressive Stimmung klagt, sondern auch über Ängste, erzählt der
Dresdner Psychologe Hans-Ulrich Wittchen. O-Ton 20 -
Hans-Ulrich Wittchen: Jetzt muss der Hausarzt irgendwas tun.
Er muss ihm helfen. Was soll er dann tun? Die Diagnose Depression? Aber da
hat er doch die Angst. Die Diagnose Angst? Aber er hat die Depression. Was
tun? Sprecherin: Mit dieser Frage musste sich
Hans-Ulrich Wittchen in der für Ängste zuständigen DSM-Arbeitsgruppe
beschäftigen. Die Vertreter der Hausärzte hatten einen scheinbar praktischen
Vorschlag: Macht doch einfach eine Krankheit, die beides vereint,
„ängstlich-depressive Reaktion" vielleicht. O-Ton 21 -
Hans-Ulrich Wittchen: Wenn der sowohl Angst wie auch
Depression hat und ich als Kliniker nicht entscheiden kann, ob es das eine
oder das andere ist, gebe ich eben diesen Papierkorb. Sprecherin: Die Wortwahl verrät es schon: Wittchen
ist kein Freund dieser vermeintlichen Patentlösung. Denn wer eine Remission
erreichen will, also die Probleme beseitigen will, muss wissen, was ihr
wahrer Kern ist. O-Ton 22 -
Hans-Ulrich Wittchen: Wenn es eine primäre Angststörung ist,
muss ich nach Angstprinzipien behandeln. Wenn es eine primäre Depression ist,
nach Depressionsprinzipien. Gebe ich also sozusagen dieser Person bei einer
primären Angststörung einfach eine depressionsspezifische Strategie, werde
ich keine volle Remission kriegen und ihn möglicherweise chronifizieren. Mit
anderen Worten, die Gefahren dieser Mischkategorie, was Fehlbehandlung
angeht, sind erheblich. Sprecherin: Mit diesen Bedenken hat sich die
Fraktion Wittchens durchgesetzt: Im DSM-5 wird es keine solche Kombi-Diagnose
geben. Einen Nachteil hat diese Lösung allerdings schon: Wird der Patient
beispielsweise als depressiv eingestuft, verrät die Diagnose nicht, dass er
auch starke Ängste hat. Bei vielen Störungen gibt es solche Überlappungen.
Für das neue DSM wurde eine radikale Lösung vorgeschlagen. Sie würde die
Diagnostik überhaupt grundlegend verändern: Diagnostizieren auf
„Dimensionen". Dann hätte ein Mensch nicht länger entweder eine
Depression oder eben keine, sondern er wäre beispielsweise kaum depressiv,
mäßig depressiv oder stark depressiv. Er hätte einen bestimmten Zahlenwert
auf einer Skala der Depressivität. Und er hätte einen anderen auf einer der
Angst. Viele Experten sind überzeugt, dass so ein System der Natur der
psychischen Störungen besser gerecht würde als die klassische Diagnostik in
Kategorien - Störung ja oder nein. Auch Sabine Herpertz, die Direktorin der
Klinik für Allgemeine Psychiatrie an der Universität Heidelberg, sieht es so. O-Ton 23 - Sabine
Herpertz: Dass es eben hier nicht wirklich einen
ganz klaren Unterschied zwischen gesunden und kranken oder gestörten
Persönlichkeiten gibt, sondern im Grunde ein Kontinuum von der Normalität zu
Menschen, die eben immer höhere Funktionsbeeinträchtigungen im Zusammenhang
mit ihrer Persönlichkeit haben. Sprecherin: Dass Sabine Herpertz gerade von
Persönlichkeitsstörungen spricht, hat seinen Grund. Insbesondere für sie
wurden Dimensionen diskutiert. Zu ihnen zählt beispielsweise der Narzissmus.
Und der Übergang vom eitlen, aber umjubelten Schauspieler zum aufgeblasenen
Kollegen, den keiner mag, ist eben fließend. Da wäre es treffender, beiden
einen Wert auf einer Narzissmus-Dimension zu geben, anstatt den einen zum
Narzissten zu erklären und den anderen nicht. Dimensionen hätten nicht nur
für Grenzfälle Vorteile. Das lässt sich gut am Beispiel Borderline zeigen,
ebenfalls eine Persönlichkeitsstörung. Auch wenn jemand ganz eindeutig an
Borderline leidet, kann er sich doch stark vom nächsten klaren Fall
unterscheiden. Und deshalb brauchen beide verschiedene Therapien, folgert
Sabine Herpertz. O-Ton 24 - Sabine
Herpertz: Da könnten Dimensionen auch stärker
weiterhelfen. Indem man sich zum Beispiel anschaut, wie emotional labil ist
ein Mensch? Wie schnell fühlt er sich durch andere Menschen zurückgewiesen?
Reagiert er auf Zurückweisung eher mit Depressivität oder mit Ängstlichkeit?
Oder aber mit Aggressivität? Das alles sind jetzt gerade Merkmale gewesen,
die zum Beispiel relativ typisch für Borderline-Patienten sind, aber bei den
einzelnen Menschen unterschiedlich ausgeprägt sind. Sprecherin: Der Ulmer Psychiater Markus Jäger sieht
ebenfalls, welche Vorteile es hätte, anhand von Dimensionen zu
diagnostizieren. Auch in der Forschung ließen sich Störungen damit feiner
erfassen. Trotzdem wendet er ein: O-Ton 25 - Markus
Jäger: nsgesamt sind Dimensionen
unpraktikabel. Die gesamte Medizin arbeitet letztendlich mehrheitlich mit
Kategorien. Ich geh zum Arzt und sage: Ich habe einen Schnupfen, ich habe
eine Lungenentzündung. Das Denken in Dimensionen, ich bin so weit, ich denke,
das überfordert jeden Arzt. Ich denke, mit Kategorien kann man besser
arbeiten. Sprecherin: Am Ende haben sich die Bedenken
durchgesetzt. Die Dimensionen werden nicht kommen. Dabei hatten die
DSM-Verantwortlichen sie ursprünglich als „die wichtigste
Voraussetzung" für ein besseres Diagnosesystem gefeiert. Jetzt stehen
sie in einem Anhang zur weiteren Überprüfung. Wissenschaftler können das
bedauern. Winfried Rief, der in Marburg nicht nur Professor ist, sondern auch
die psychologische Ambulanz der Uni leitet, sieht dagegen die Vorteile einer
vergleichsweise simplen Diagnostik. O-Ton 26 - Winfried
Rief: Für einen Experten ist es natürlich immer
eine Verführung, es immer noch präziser zu machen. Aber damit verliert ein
Klassifikationssystem natürlich völlig die Hauptfunktion, nämlich, die
Kommunikation zwischen Behandlern zu erleichtern. Dass ich anrufen kann und
sagen: Ich habe hier einen Patienten mit Depressionen. Der ist jetzt so
schwer depressiv, dass er vielleicht noch eine Pharmakotherapie dazu braucht.
Und so einen Arzt dann auch mit ins Boot nehme, in den Behandlungsplan. Dann
war das eine einfache Kommunikation. Da brauche ich nicht in dem Sinne eine
Depressionsdiagnose, die fünffach gestuft ist oder so was. Sprecherin: Die große Revolution fällt also aus.
Auch sonst bringt das DSM-5, das neue Diagnosehandbuch der Psychiatrie, keine
umwälzenden Neuerungen. Unter dem Strich wurden die Diagnosekriterien für
viele Störungen etwas verändert, damit sie besser widerspiegeln, was man
heute über diese Störungen weiß. Ein paar Diagnosen sind neu dazugekommen.
Aber meist werden sie nicht Gesunden gestellt werden, sondern Menschen, die
bisher nicht recht passende Diagnosen attestiert bekamen. Das sind keine
Sensationen. Aber sie könnten helfen, die Behandlung von psychisch Kranken zu
verbessern.
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