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Das magische Auge
 Zweiter Sehsinn
(ZEIT WISSEN 3/2010)

Es gibt eine unbewusste Art des Sehens, die Bewegungen steuert, behaupten Forscher. Sie lässt uns Steigungen richtig einschätzen und warnt uns vor heranfliegenden Gegenständen. George W. Bush hat das schon einmal vor einer dicken Beule bewahrt.

Ein zweiter Sehsinn schützt uns vor Gefahren und steuert unsere Bewegungen. Wir wissen nur nichts von ihm

Der Unfall im Februar 1988 veränderte Dee Fletchers Leben für immer. Als sie damals in ihrem frisch renovierten Haus in der Nähe von Mailand duschte, drang geruchloses giftiges Gas ins Badezimmer. Der Propanbrenner, der für heißes Wasser sorgte, war nicht ordentlich gewartet worden. Fletcher brach bewusstlos zusammen. Gerade noch rechtzeitig fand ihr Mann sie. Die Ärzte konnten ihr Leben retten. Doch ihr Sehsinn blieb auf bizarre Weise geschädigt.

Seit dem Unfall nimmt Fletcher damit nur noch wenig bewusst wahr. Sie kann die Farbe und Oberflächenbeschaffenheit von Dingen ausmachen. Sie weiß also etwa, dass etwas aus rotem Plastik ist. Aber sie ist ratlos, was es sein könnte. Fletcher kann keine Formen mehr identifizieren: Sie erkennt die Gesichter ihrer Freunde nicht. Sie kann ein Quadrat nicht von einem Dreieck unterscheiden. Und als die britischen Psychologen Melvyn Goodale und David Milner ihr eines Tages einen Bleistift zeigten, konnte sie nicht einmal sagen, ob er senkrecht oder waagrecht gehalten wurde.

Doch dann geschah es: Sie griff nach dem Bleistift, obwohl sie ihre Hand dazu in der Bewegung richtig drehen musste. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis den beiden Experten klar wurde, was gerade geschehen war. Eine Frau, die einen Bleistift nicht als solchen erkennen kann, geschweige denn, wie er gehalten wird, hatte ihn trotzdem perfekt gegriffen. Die Forscher versuchten es wieder und wieder. Jedes Mal meisterte Fletcher die Aufgabe.

Fortan beobachteten die Wissenschaftler ihre Patientin genauer: Einmal nahmen die beiden sie zu einem Picknick in den Bergen mit. Sie gingen einen steilen, unebenen Pfad hinauf, der durch einen Pinienwald führte. Fletcher marschierte selbstsicher voran, wich allen herabhängenden Zweigen aus und stolperte nicht über eine einzige Wurzel.

Die Ausfälle der Schottin sind exotisch. Doch die Eigentümlichkeiten ihres Sehens sind es nicht. Wir alle sehen letztlich wie sie – wir merken es nur nicht. Fletcher ist einer jener in der Fachwelt berühmten Fälle, die überraschende Einblicke in die Arbeitsweise unseres Gehirns ermöglichen.

Melvyn Goodale ist heute Professor an der University of Western Ontario, David Milner emeritierter Professor der britischen Durham University. Inspiriert von Fletchers seltsamer Störung, formulierten sie eine neue Theorie des Sehens, die sie in den vergangenen Jahren immer besser belegen konnten: Wir verfügen über zwei Sehsysteme. Das eine – bei Fletcher weitgehend ausgefallen – liefert die Bilder, die wir bewusst wahrnehmen. Das zweite steuert unsere Bewegungen.

Wir glauben zwar, dass wir einen Brief in den Postkasten stecken können, weil wir die Klappe sehen und unsere Hand aufgrund des bewussten Bildes steuern, aber in Wirklichkeit gehorcht die Hand einem Sehsystem, dessen Existenz wir nicht einmal erahnen. Goodale ist klar, wie absurd das klingt: »Die Idee erscheint als Angriff auf den gesunden Menschenverstand.«

Trotzdem steht die Theorie bereits in den ersten Lehrbüchern. Die Philosophin Patricia Churchland von der University of California in San Diego nennt sie »brillant«. Andere sind nicht ganz so enthusiastisch. Der Wahrnehmungspsychologe Karl Gegenfurtner von der Universität Gießen hält die Theorie für »sehr extrem formuliert«. Er glaubt im Gegensatz zu Goodale und Milner, »dass Wahrnehmung und Handlung sehr eng miteinander verbunden sind«.

Der Bewusstseinsforscher Christof Koch vom California Institute of Technology stimmt der These der parallelen Sehbahnen zwar zu. Zugleich teilt er aber auch Gegenfurtners Meinung: »Es gibt massive Querverbindungen zwischen den Strömen.« Koch sieht weitreichende Konsequenzen. Für ihn belegt die Existenz der zwei Ströme, dass Bewusstsein nicht irgendwie im Gehirn als Ganzem entsteht, wie manche Experten behaupten, sondern in ganz bestimmten Arealen: »Was aber so magisch an der einen Sehbahn ist, dass es Bewusstsein erzeugt, wissen wir nicht.«

Die Verfechter der Theorie können sich auf ein weiteres Indiz stützen: Es gibt Patienten, die gewissermaßen das Spiegelbild von Fletcher sind. Sie sehen subjektiv bestens, aber können einen Brief nicht ohne Probleme in den Postkasten werfen. Ihre Krankheit wird optische Ataxie genannt oder Bálint-Syndrom nach dem ungarischen Neurologen Rudolph Bálint, der sie 1909 entdeckt hat. Sollen diese Patienten eine Hand in einen Schlitz in der Mitte einer drehbaren Scheibe stecken, scheitern sie meist. Sie schaffen es nicht, ihre Hand entsprechend der Drehung auszurichten, obwohl sie sehr wohl sehen, in welche Richtung der Schlitz gerade zeigt.

Selbst Gesunde machen Fehler, die darauf hinweisen, dass zwei Sehsysteme in unserem Kopf am Werk sind. Goodales Team konfrontierte Versuchspersonen mit einer eindrucksvollen optischen Täuschung. Sie sahen die lebensgroße Maske eines weiblichen Gesichts. In Wirklichkeit aber war die Maske eine Hohlform. Doch weil Licht von unten Schatten wie bei einem normalen Antlitz erzeugte und Menschen Gesichter mit Nasenspitzen statt mit Nasendellen gewohnt sind, schien das Gesicht aus der Grundfläche herauszuragen.

Doch nun hängten die Wissenschaftler kleine Magnete in die Maske und baten ihre Teilnehmer, sie mit dem Zeigefinger wegzuschnippen wie ein Insekt. Die Teilnehmer zielten nicht etwa dorthin, wo sie die Magnete sahen, sondern dorthin, wo sie tatsächlich waren – in die Hohlform. Wir sind also nicht auf unser bewusstes Sehen angewiesen, sondern verfügen tatsächlich über ein zweites Sehsystem, das schnelle Bewegungen steuert.

Die beiden Sehsysteme können unabhängig voneinander ausfallen, weil sie in verschiedenen Teilen des Gehirns angesiedelt sind. Natürlich beziehen beide ihre Informationen von den Augen. Von dort aus fließen die Sehdaten über verschiedene Zwischenstationen in die primäre Sehrinde hinten im Gehirn. Doch hier trennen sich die Wege, wie die Hirnforscher schon lange wissen. Ein Teil wandert im Gehirn nach oben zum hinteren Scheitellappen und bildet den sogenannten dorsalen Strom. Er hilft laut Goodale und Milner, Bewegungen zu steuern, und ist bei Menschen mit optischer Ataxie gestört. Der ventrale Strom dagegen biegt nach unten zum unteren Schläfenlappen ab. Wird er unterbrochen, funktioniert das bewusste Wahrnehmen nicht mehr richtig. Fletcher etwa kann keine Zeichnungen erkennen, weil eine kleine Region in ihrem ventralen Strom nicht mehr reagiert. Das zeigte sich bei einer Untersuchung im Hirnscanner.

Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass ein eigenes Sehsystem existiert, das Bewegungen steuert. »Gehirne haben sich entwickelt, damit wir uns bewegen können«, sagt Goodale. »Das Denken war immer nur ein Anhängsel des Handelns – das Handeln zählt, nicht der Gedanke.« Schon das einzellige Augentierchen kann zum Licht schwimmen, von dem es lebt. Bewusst sehen kann es wohl kaum. Auch ein Frosch muss vor allem die Fliege schnappen können – ob er sie bewusst wahrnimmt, weiß niemand. Doch irgendwann begannen Lebewesen, sich ein Bild von der Welt zu machen. Das ermöglichte ihnen, ihr Handeln zu planen. Es war aber nicht möglich, dafür einfach das alte System weiterzuentwickeln. Denn die neue und die alte Aufgabe verlangten ganz verschiedene Fähigkeiten.

Wenn der Frosch die Fliege zum Beispiel fangen will, muss er registrieren, wo sie sich in diesem Moment befindet, und zwar von ihm aus gesehen: zwanzig Zentimeter leicht links vor dem Maul. Er verwendet ein Koordinatensystem, dessen Zentrum er selbst bildet. Wir steuern unsere Bewegungen nicht anders. Wenn wir uns dagegen ein Bild von der Welt verschaffen wollen, nutzen wir als Koordinatensystem die Welt und das, was sich in ihr befindet. Sonst würde die wahrgenommene Umgebung sich jedes Mal ändern, sobald wir den Kopf drehen.

Das bewusste System liefert uns das Überblicksbild, anhand dessen wir unsere Handlungen grob planen. Die Feinarbeit erledigt dann das dorsale, automatische System. Milner und Goodale vergleichen die Arbeitsteilung mit einem fahrenden Mars-Roboter und dem Mann im Kontrollzentrum, der ihn fernsteuert. Dieser Operator entspricht dem ventralen, bewussten System. Er sieht auf dem Bild, das die Roboteraugen auf seinen Bildschirm schicken, zum Beispiel einen interessanten Stein. Der Operator weiß nicht, wo der Stein genau liegt oder wie groß er ist. Muss er auch nicht. Er braucht nur darauf zu klicken. Der halbautomatische Roboter kennt Lage sowie Größe und greift sich den Stein.

Die Eigentümlichkeiten dieser beiden Systeme haben mitunter bemerkenswerte Folgen. In einer Studie taxierten Probanden einen bescheidenen Abhang von fünf Grad, vor dem sie standen, auf beachtliche zwanzig Grad und stellten auch den Winkel auf einer Scheibe entsprechend ein. Je müder, untrainierter oder gebrechlicher der Schätzende war, umso steiler erschien ihm der Berg.

Wenn Menschen die Steilheit jedoch unbewusst abschätzen müssen, ist das Ergebnis viel exakter. Jessica Witt von der amerikanischen Purdue University verwendete dazu eine Apparatur, die an ein Stativ für einen Projektor erinnert. Die Versuchspersonen legten eine Hand auf die kippbare Fläche und stellten den Winkel ein, ohne auf die Apparatur zu blicken. Alle Probanden kippten die Fläche nahezu exakt der tatsächlichen Steigung des Hügels entsprechend.

In dieser Versuchsanordnung übernahm das automatische Sehen die Bewegungssteuerung. Es lässt sich nicht täuschen, sonst würden wir auf der Nase landen. Wenn wir dagegen vor dem Hügel stehen und darüber sinnieren, ob wir wirklich hinaufsteigen wollen, gebietet es die Vorsicht, dass der Schwierigkeitsgrad hoch angesetzt wird und die eigenen Kräfte berücksichtigt werden.

Notfalls lotst uns die dorsale Automatik auch ganz allein durch die Gegend. Dies ist jedenfalls eine mögliche Erklärung für ein Kunststück, das vor Kurzem ein südafrikanischer Arzt vorführte. Obwohl er blind ist, ging er auf Bitten von Forschern ohne seinen Stock einen mit Hindernissen vollgestellten Flur entlang – unsicher, aber ohne jede Kollision. Es war eine besonders verblüffende Demonstration des Phänomens »Blindsehen«. Bei dieser seltenen Störung ist die primäre Sehrinde ausgefallen. Doch offenbar bekommt der Dorsalstrom auch Input von früheren Stationen der Nervenbahn und hält seinen Besitzer so notdürftig manövrierfähig. Bei den meisten Blinden ist diese Fähigkeit allerdings nicht vorhanden, da ihre Augen geschädigt sind.

Auch George W. Bush dürfte das unbewusste Sehsystem beigestanden haben, als er sich bei der berühmten Pressekonferenz in Bagdad vor einem heranfliegenden Schuh duckte. Der irakische Ministerpräsident Nouri al-Maliki neben ihm blieb ungerührt sitzen. Dessen automatisches Sehsystem hatte wohl erkannt, dass der Schuh ihn nicht treffen würde, während jenes von Bush den damaligen US-Präsidenten abtauchen ließ. Davon ist Jeffrey Lin von der University of Washington überzeugt. Der Psychologe wies im Labor nach, dass wir tatsächlich unbewusst erkennen, ob sich etwas auf Kollisionskurs befindet.

Das dorsale Sehsystem passt auf uns auf, ohne dass wir etwas davon merken. Man könnte es einen Zombie nennen. So bezeichnen Philosophen ein biologisches System, das unbemerkt von unserem Bewusstsein geistige Aufgaben verrichtet. Dieser Zombie waltet ausgerechnet in dem System, das auch unser bewusstes Bild von der Welt erzeugt. Oder man könnte das unbewusste Sehen auch als das bezeichnen, was es für viele ist: als Schutzengel.

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