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Das
magische Auge |
Es gibt eine unbewusste Art
des Sehens, die Bewegungen steuert, behaupten Forscher. Sie lässt uns
Steigungen richtig einschätzen und warnt uns vor heranfliegenden
Gegenständen. George W. Bush hat das schon einmal vor einer dicken Beule
bewahrt. Ein zweiter Sehsinn schützt uns vor Gefahren und
steuert unsere Bewegungen. Wir wissen nur nichts von ihm Der Unfall im Februar 1988 veränderte Dee Fletchers
Leben für immer. Als sie damals in ihrem frisch renovierten Haus in der Nähe
von Mailand duschte, drang geruchloses giftiges Gas ins Badezimmer. Der
Propanbrenner, der für heißes Wasser sorgte, war nicht ordentlich gewartet
worden. Fletcher brach bewusstlos zusammen. Gerade noch rechtzeitig fand ihr
Mann sie. Die Ärzte konnten ihr Leben retten. Doch ihr Sehsinn blieb auf
bizarre Weise geschädigt. Seit dem Unfall nimmt Fletcher damit nur noch wenig
bewusst wahr. Sie kann die Farbe und Oberflächenbeschaffenheit von Dingen
ausmachen. Sie weiß also etwa, dass etwas aus rotem Plastik ist. Aber sie ist
ratlos, was es sein könnte. Fletcher kann keine Formen mehr identifizieren:
Sie erkennt die Gesichter ihrer Freunde nicht. Sie kann ein Quadrat nicht von
einem Dreieck unterscheiden. Und als die britischen Psychologen Melvyn
Goodale und David Milner ihr eines Tages einen Bleistift zeigten, konnte sie
nicht einmal sagen, ob er senkrecht oder waagrecht gehalten wurde. Doch dann geschah es: Sie griff nach dem Bleistift,
obwohl sie ihre Hand dazu in der Bewegung richtig drehen musste. Es dauerte
ein paar Augenblicke, bis den beiden Experten klar wurde, was gerade
geschehen war. Eine Frau, die einen Bleistift nicht als solchen erkennen
kann, geschweige denn, wie er gehalten wird, hatte ihn trotzdem perfekt
gegriffen. Die Forscher versuchten es wieder und wieder. Jedes Mal meisterte
Fletcher die Aufgabe. Fortan beobachteten die Wissenschaftler ihre
Patientin genauer: Einmal nahmen die beiden sie zu einem Picknick in den
Bergen mit. Sie gingen einen steilen, unebenen Pfad hinauf, der durch einen
Pinienwald führte. Fletcher marschierte selbstsicher voran, wich allen
herabhängenden Zweigen aus und stolperte nicht über eine einzige Wurzel. Die Ausfälle der Schottin sind exotisch. Doch die
Eigentümlichkeiten ihres Sehens sind es nicht. Wir alle sehen letztlich wie
sie – wir merken es nur nicht. Fletcher ist einer jener in der Fachwelt
berühmten Fälle, die überraschende Einblicke in die Arbeitsweise unseres
Gehirns ermöglichen. Melvyn Goodale ist heute Professor an der University
of Western Ontario, David Milner emeritierter Professor der britischen Durham
University. Inspiriert von Fletchers seltsamer Störung, formulierten sie eine
neue Theorie des Sehens, die sie in den vergangenen Jahren immer besser
belegen konnten: Wir verfügen über zwei Sehsysteme. Das eine – bei Fletcher
weitgehend ausgefallen – liefert die Bilder, die wir bewusst wahrnehmen. Das
zweite steuert unsere Bewegungen. Wir glauben zwar, dass wir einen Brief in den
Postkasten stecken können, weil wir die Klappe sehen und unsere Hand aufgrund
des bewussten Bildes steuern, aber in Wirklichkeit gehorcht die Hand einem
Sehsystem, dessen Existenz wir nicht einmal erahnen. Goodale ist klar, wie
absurd das klingt: »Die Idee erscheint als Angriff auf den gesunden
Menschenverstand.« Trotzdem steht die Theorie bereits in den ersten
Lehrbüchern. Die Philosophin Patricia Churchland von der University of
California in San Diego nennt sie »brillant«. Andere sind nicht ganz so
enthusiastisch. Der Wahrnehmungspsychologe Karl Gegenfurtner von der
Universität Gießen hält die Theorie für »sehr extrem formuliert«. Er glaubt
im Gegensatz zu Goodale und Milner, »dass Wahrnehmung und Handlung sehr eng
miteinander verbunden sind«. Der Bewusstseinsforscher Christof Koch vom
California Institute of Technology stimmt der These der parallelen Sehbahnen
zwar zu. Zugleich teilt er aber auch Gegenfurtners Meinung: »Es gibt massive
Querverbindungen zwischen den Strömen.« Koch sieht weitreichende
Konsequenzen. Für ihn belegt die Existenz der zwei Ströme, dass Bewusstsein
nicht irgendwie im Gehirn als Ganzem entsteht, wie manche Experten behaupten,
sondern in ganz bestimmten Arealen: »Was aber so magisch an der einen Sehbahn
ist, dass es Bewusstsein erzeugt, wissen wir nicht.« Die Verfechter der Theorie können sich auf ein
weiteres Indiz stützen: Es gibt Patienten, die gewissermaßen das Spiegelbild
von Fletcher sind. Sie sehen subjektiv bestens, aber können einen Brief nicht
ohne Probleme in den Postkasten werfen. Ihre Krankheit wird optische Ataxie
genannt oder Bálint-Syndrom nach dem ungarischen Neurologen Rudolph Bálint,
der sie 1909 entdeckt hat. Sollen diese Patienten eine Hand in einen Schlitz
in der Mitte einer drehbaren Scheibe stecken, scheitern sie meist. Sie
schaffen es nicht, ihre Hand entsprechend der Drehung auszurichten, obwohl
sie sehr wohl sehen, in welche Richtung der Schlitz gerade zeigt. Selbst Gesunde machen Fehler, die darauf hinweisen,
dass zwei Sehsysteme in unserem Kopf am Werk sind. Goodales Team
konfrontierte Versuchspersonen mit einer eindrucksvollen optischen Täuschung.
Sie sahen die lebensgroße Maske eines weiblichen Gesichts. In Wirklichkeit
aber war die Maske eine Hohlform. Doch weil Licht von unten Schatten wie bei
einem normalen Antlitz erzeugte und Menschen Gesichter mit Nasenspitzen statt
mit Nasendellen gewohnt sind, schien das Gesicht aus der Grundfläche
herauszuragen. Doch nun hängten die Wissenschaftler kleine Magnete
in die Maske und baten ihre Teilnehmer, sie mit dem Zeigefinger
wegzuschnippen wie ein Insekt. Die Teilnehmer zielten nicht etwa dorthin, wo
sie die Magnete sahen, sondern dorthin, wo sie tatsächlich waren – in die
Hohlform. Wir sind also nicht auf unser bewusstes Sehen angewiesen, sondern
verfügen tatsächlich über ein zweites Sehsystem, das schnelle Bewegungen
steuert. Die beiden Sehsysteme können unabhängig voneinander
ausfallen, weil sie in verschiedenen Teilen des Gehirns angesiedelt sind.
Natürlich beziehen beide ihre Informationen von den Augen. Von dort aus
fließen die Sehdaten über verschiedene Zwischenstationen in die primäre
Sehrinde hinten im Gehirn. Doch hier trennen sich die Wege, wie die
Hirnforscher schon lange wissen. Ein Teil wandert im Gehirn nach oben zum
hinteren Scheitellappen und bildet den sogenannten dorsalen Strom. Er hilft
laut Goodale und Milner, Bewegungen zu steuern, und ist bei Menschen mit
optischer Ataxie gestört. Der ventrale Strom dagegen biegt nach unten zum
unteren Schläfenlappen ab. Wird er unterbrochen, funktioniert das bewusste
Wahrnehmen nicht mehr richtig. Fletcher etwa kann keine Zeichnungen erkennen,
weil eine kleine Region in ihrem ventralen Strom nicht mehr reagiert. Das
zeigte sich bei einer Untersuchung im Hirnscanner. Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass ein
eigenes Sehsystem existiert, das Bewegungen steuert. »Gehirne haben sich
entwickelt, damit wir uns bewegen können«, sagt Goodale. »Das Denken war
immer nur ein Anhängsel des Handelns – das Handeln zählt, nicht der Gedanke.«
Schon das einzellige Augentierchen kann zum Licht schwimmen, von dem es lebt.
Bewusst sehen kann es wohl kaum. Auch ein Frosch muss vor allem die Fliege
schnappen können – ob er sie bewusst wahrnimmt, weiß niemand. Doch irgendwann
begannen Lebewesen, sich ein Bild von der Welt zu machen. Das ermöglichte
ihnen, ihr Handeln zu planen. Es war aber nicht möglich, dafür einfach das
alte System weiterzuentwickeln. Denn die neue und die alte Aufgabe verlangten
ganz verschiedene Fähigkeiten. Wenn der Frosch die Fliege zum Beispiel fangen will,
muss er registrieren, wo sie sich in diesem Moment befindet, und zwar von ihm
aus gesehen: zwanzig Zentimeter leicht links vor dem Maul. Er verwendet ein
Koordinatensystem, dessen Zentrum er selbst bildet. Wir steuern unsere
Bewegungen nicht anders. Wenn wir uns dagegen ein Bild von der Welt
verschaffen wollen, nutzen wir als Koordinatensystem die Welt und das, was
sich in ihr befindet. Sonst würde die wahrgenommene Umgebung sich jedes Mal
ändern, sobald wir den Kopf drehen. Das bewusste System liefert uns das Überblicksbild, anhand
dessen wir unsere Handlungen grob planen. Die Feinarbeit erledigt dann das
dorsale, automatische System. Milner und Goodale vergleichen die
Arbeitsteilung mit einem fahrenden Mars-Roboter und dem Mann im
Kontrollzentrum, der ihn fernsteuert. Dieser Operator entspricht dem
ventralen, bewussten System. Er sieht auf dem Bild, das die Roboteraugen auf
seinen Bildschirm schicken, zum Beispiel einen interessanten Stein. Der
Operator weiß nicht, wo der Stein genau liegt oder wie groß er ist. Muss er
auch nicht. Er braucht nur darauf zu klicken. Der halbautomatische Roboter
kennt Lage sowie Größe und greift sich den Stein. Die Eigentümlichkeiten dieser beiden Systeme haben
mitunter bemerkenswerte Folgen. In einer Studie taxierten Probanden einen
bescheidenen Abhang von fünf Grad, vor dem sie standen, auf beachtliche
zwanzig Grad und stellten auch den Winkel auf einer Scheibe entsprechend ein.
Je müder, untrainierter oder gebrechlicher der Schätzende war, umso steiler
erschien ihm der Berg. Wenn Menschen die Steilheit jedoch unbewusst
abschätzen müssen, ist das Ergebnis viel exakter. Jessica Witt von der
amerikanischen Purdue University verwendete dazu eine Apparatur, die an ein
Stativ für einen Projektor erinnert. Die Versuchspersonen legten eine Hand
auf die kippbare Fläche und stellten den Winkel ein, ohne auf die Apparatur
zu blicken. Alle Probanden kippten die Fläche nahezu exakt der tatsächlichen
Steigung des Hügels entsprechend. In dieser Versuchsanordnung übernahm das
automatische Sehen die Bewegungssteuerung. Es lässt sich nicht täuschen,
sonst würden wir auf der Nase landen. Wenn wir dagegen vor dem Hügel stehen
und darüber sinnieren, ob wir wirklich hinaufsteigen wollen, gebietet es die
Vorsicht, dass der Schwierigkeitsgrad hoch angesetzt wird und die eigenen
Kräfte berücksichtigt werden. Notfalls lotst uns die dorsale Automatik auch ganz
allein durch die Gegend. Dies ist jedenfalls eine mögliche Erklärung für ein
Kunststück, das vor Kurzem ein südafrikanischer Arzt vorführte. Obwohl er
blind ist, ging er auf Bitten von Forschern ohne seinen Stock einen mit
Hindernissen vollgestellten Flur entlang – unsicher, aber ohne jede
Kollision. Es war eine besonders verblüffende Demonstration des Phänomens
»Blindsehen«. Bei dieser seltenen Störung ist die primäre Sehrinde
ausgefallen. Doch offenbar bekommt der Dorsalstrom auch Input von früheren
Stationen der Nervenbahn und hält seinen Besitzer so notdürftig
manövrierfähig. Bei den meisten Blinden ist diese Fähigkeit allerdings nicht
vorhanden, da ihre Augen geschädigt sind. Auch George W. Bush dürfte das unbewusste Sehsystem
beigestanden haben, als er sich bei der berühmten Pressekonferenz in Bagdad
vor einem heranfliegenden Schuh duckte. Der irakische Ministerpräsident Nouri
al-Maliki neben ihm blieb ungerührt sitzen. Dessen automatisches Sehsystem
hatte wohl erkannt, dass der Schuh ihn nicht treffen würde, während jenes von
Bush den damaligen US-Präsidenten abtauchen ließ. Davon ist Jeffrey Lin von
der University of Washington überzeugt. Der Psychologe wies im Labor nach,
dass wir tatsächlich unbewusst erkennen, ob sich etwas auf Kollisionskurs
befindet. Das dorsale Sehsystem passt auf uns auf, ohne dass
wir etwas davon merken. Man könnte es einen Zombie nennen. So bezeichnen
Philosophen ein biologisches System, das unbemerkt von unserem Bewusstsein
geistige Aufgaben verrichtet. Dieser Zombie waltet ausgerechnet in dem
System, das auch unser bewusstes Bild von der Welt erzeugt. Oder man könnte
das unbewusste Sehen auch als das bezeichnen, was es für viele ist: als Schutzengel.
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