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Ein Rechter ist ein Linker, der überfallen wurde

Wir glauben zu wissen, warum wir unsere Meinungen ändern. Doch die Wissenschaft hat entdeckt, dass wir uns täuschen


(NZZ Folio, Mai 2018)

Ausgerechnet im Internet, wo bei Meinungsverschiedenheiten schnell die Fetzen fliegen, wo Ahnungslose und Besserwisser den Ton angeben – ausgerechnet da soll es einen Hort der zivilen Debatte geben, wie aus dem Lehrbuch der Demokratie, erträumt von Weisen und Philosophen?

Auf der Website «Change My View» präsentieren Nutzer eine Meinung und fordern andere auf, diese zu widerlegen, mindestens ein Stück weit. Die ellenlange Liste der auf Widerspruch wartenden Meinungen reicht von den grossen Fragen der Menschheit bis zu eher trivialen Überzeugungen: Eine sozialistische Wirtschaftsordnung wäre gerechter, halbautomatische Waffen gehören verboten, Lautstärkeregler zum Schieben taugen nichts, dicke Kinder sind Opfer ihrer Eltern. Die Ansichten sind mit Argumenten unterfüttert und überwiegend ernst gemeint.

«Die Reichen sollten für Verkehrsdelikte mehr bezahlen als die Armen», postulierte ein Nutzer mit dem Pseudonym zeek0. Denn, so seine Begründung, Arme würden eine 150-Dollar-Strafe viel stärker spüren als Reiche, höhere Bussen für letztere seien daher gerecht. «Ich bin gewillt, mich auf andere Überlegungen einzulassen und meine Meinung zu ändern, wenn es angebracht ist», fügte zeek0 noch an.

Die anderen Überlegungen liessen nicht lange auf sich warten. Schon nach vier Tagen listete «Change My View» 676 Kommentare auf und Kommentare zu Kommentaren. Soll womöglich die Polizei den Tarif für die Strafzettel festlegen? Nein, das Finanzamt teilt ihr mit, wie reich der Delinquent ist. Aber das ist ja womöglich gar nicht auf dem neuesten Stand. Ausserdem geben Reiche da ohnehin nicht ihr wahres Einkommen an. Dieser Einwand erhält von einer Mitdiskutantin ein Delta (∆) – das mathematische Zeichen für Veränderung. Sie signalisiert damit, dass das Argument ihre Meinung verändert hat. Würde eine Strafe für Superreiche nicht absurd hoch ausfallen, wäre aber für einen Bill Gates selbst dann kaum spürbar, wenn sie sich auf Hunderte von Millionen beliefe? Würde die Polizei, die mit den Verkehrsbussen ihr Budget aufbessert, nicht gezielt Jagd auf Reiche machen und sich den ganzen Tag hinter die Lamborghini-Fahrer klemmen? Dieses Argument leuchtet zeek0 ein. Er denkt nun, dass sein Vorschlag zu kurz greife: Delta. Kurz, es ist eine Diskussion, in der viele kluge Argumente vorgebracht und sogar gehört werden.

So ähnlich stellen wir uns Meinungsbildung vor. Wir denken, was wir denken, weil wir gute Gründe dafür haben. Kritische Geister wie der Schriftsteller Salman Rushdie haben allerdings ihre Zweifel. «Auf jedem Basar findet man Gründe, auf jedem Diebesmarkt – bündelweise, im Dutzend billiger. Gründe sind immer billig, so billig wie die Antworten der Politiker.» Woher unsere Meinungen wirklich kommen, haben Wissenschafter in zahllosen Untersuchungen zu ergründen versucht.

Die Internetdebatten bei «Change My View» bieten für sie eine perfekte Gelegenheit herauszufinden, welche Gründe wirklich Meinungen beeinflussen können. Hier finden sich riesige Mengen perfekt dokumentierter Beiträge. Die lassen sich auswerten und dank den Deltas lässt sich statistisch ermitteln, welche Arten von Beiträgen das grosse und oft vergeblich verfolgte Ziel erreichen: den anderen zu über­zeugen.

Der Informatiker Chenhao Tan von der University of Colorado Boulder hat über 18000 «Change My View»-Diskussionen mit gut einer Million Beiträgen analysiert. Die konnte er natürlich nicht alle lesen. Stattdessen fahndete er mit einer Software nach Dialogmustern und sprachlichen Merkmalen, die Rückschlüsse auf die Qualität der Beiträge nahelegen. Einige Resultate deuten darauf hin, dass bessere Argumente im Schnitt mehr ausrichten als schlechtere. So weit, so rational. Die Analyse zeigt aber auch: Die Verfechter einer These lassen sich eher von Beiträgen beeinflussen, deren Stil ihrem eigenen ähnelt – unabhängig vom Inhalt. Und schliesslich gilt ganz schlicht: Wer früh gegenhält, setzt sich mit seinen Einwänden öfter durch. Die ersten zwei Einwender erzielen dreimal so oft ein Delta wie der zehnte. Das hat mit Vernunft nicht viel zu tun.

Obwohl die virtuelle Diskussionsarena so angelegt ist, dass sich allein die besseren Argumente durchsetzen sollen, klappt das also nur teilweise. Woanders haben Fakten und Logik noch weniger Chancen. Oft liegt das schlicht an den Interessen der zu Überzeugenden. «Es ist schwierig, einem Mann etwas verständlich zu machen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht», pflegte der sozialkritische US-Schriftsteller Upton Sinclair zu sagen.

Häufig stehen aber gar keine Interessen auf dem Spiel, zumindest keine finanziellen. Forscher raufen sich die Haare, wenn Eltern ihre Kinder wegen vermeintlich grosser Gefahren nicht impfen lassen oder wenn Skeptiker den Klimawandel bestreiten. Die Wissenschafter sehen das Problem meist darin, dass viele Menschen die oft komplexen Sachverhalte einfach nicht verstünden. Würden die Impfgegner und Klimawandelleugner nur besser in rationalem Denken geschult, würden sie ihre irrigen Meinungen hinter sich lassen. Doch das ist nur ein schöner Traum.

Schnelles falsches Denken

Das demonstrierte vergangenes Jahr Dan Kahan von der Yale University. In einem Onlineexperiment stellte der Professor für Recht und Psychologie über 2000 Amerikanern folgende Denkaufgabe: Mediziner haben ein neues Medikament gegen krankhafte Hautveränderungen getestet. 223 der damit Behandelten ging es zwei Wochen später besser, 75 schlechter. Von denen, die die Crème nicht bekamen, ging es 107 besser und 21 schlechter. Hat das Medikament geholfen?

Die meisten fangen bei dieser Aufgabe nicht an zu rechnen, sondern nutzen eine grob vereinfachte Denkstrategie. Sie blicken beispielsweise nur auf diejenigen, die das Medikament bekommen haben. Der Mehrzahl geht es besser, also wirkt das Mittel offenbar. Psychologen wie der Nobelpreisträger Daniel Kahneman sehen in solchen Fällen unser schnelles, automatisiertes Denksystem am Werk, das sie System 1 nennen. Es ist unabdingbar, denn in vielen Situationen sollte man sich nicht erst durch langes Nachdenken eine Meinung bilden. Bei bedrohlichen Krankheitssymptomen macht man besser, was die Ärztin rät – ohne lange zu googeln.

Leider liegt das schnelle System 1 oft falsch. Das sieht, wer System 2 nutzt, das auf sorgsames Nachdenken setzt. Im Fall der Hautcrème stellt sich dann heraus, dass das angebliche Hautmittel nichts taugt. Wenn man rechnet, wird klar: Der Anteil derer, die gesund werden, ist unter denen grösser, die das Mittel nicht bekommen haben.

Nun gibt es Menschen, die mit Zahlen besser umgehen können als andere. Kahan erfasste für seine Studie diese Fähigkeit mit einem Test. Die Erfolgreicheren schnitten bei der Hautmittelaufgabe wie erwartet besser ab. Braucht die Bevölkerung also Nachhilfe in Mathematik, damit sie sich in Zukunft anhand von wissenschaftlichen Befunden die richtige Meinung bildet? Leider wäre es damit nicht getan, wie ein weiterer Versuch zeigte. Er benutzte die hypothetischen Zahlen aus der Hautmittelstudie in einem kontroversen Zusammenhang: beim Waffengesetz.

Es ging um die Wirkung von Waffen auf die Kriminalität. Wenn Waffen verboten wurden, sank die Kriminalität in 223 Städten und stieg in 75 Städten. Waren Waffen nicht verboten, sank sie in 107 Städten und stieg in 21. Jetzt passierte etwas Verblüffendes: Wenn das Ergebnis nicht zu ihrer politischen Überzeugung passte, lagen die Rechentalente häufiger daneben als die Mathe-Ignoranten.

Analog der Hautcrèmestudie müsste ein zahlenkundiger linker Waffengegner aus diesen Zahlen schliessen, dass der Waffenbesitz die Kriminalität senkt. Doch er beginnt häufig gar nicht erst zu rechnen, wenn der erste Eindruck zu seiner politischen Meinung passt. Ein Waffenbefürworter hingegen erkennt häufiger, dass die genaue Analyse der Daten eigentlich für ihn spricht. Dass man es sich mit einer Meinung bequem macht, ist jedoch nicht nur ein Wesenszug der politischen Linken. Wenn Kahan die Aufgabe mit vertauschten Zahlen stellte, waren es die Waffenbefürworter, die nicht nachrechneten.

Natürlich manipuliert niemand absichtlich sein Denken, um sich selbst zu überzeugen; das würde nicht klappen. Unsere Meinungen entstehen meist ohne unser Zutun, wir wissen nicht, woher sie kommen. Die subjektiven Gründe für unsere Ansichten sind nicht unbedingt die wahren. «Unser Motor ist anders geartet, wir benutzen finstereren Treibstoff», schrieb Rushdie. Abneigungen bis hin zum Hass spielen eine Rolle, etwa bei Vorurteilen gegenüber Minderheiten.

So erklärt auch der Forscher Dan Kahan, warum die Kraft der Vernunft in seinem Experiment so kläglich scheitert, während vorgefasste Meinungen triumphieren. Meinungen definieren unsere Identität und festigen unsere Beziehungen zu Menschen mit den gleichen Überzeugungen. Wer einen linken Freundeskreis hat, zweifelt besser nicht am Klimawandel. Wer einen konservativen pflegt, hält unbegrenzte Zuwanderung nicht ungestraft für eine Bereicherung. Gegenläufige Berichte, Statistiken und Expertenstatements bedrohen die Harmonie, deshalb wehren wir sie ab. Kahan sieht einen «psychischen Selbstverteidigungsmechanismus» am Werk. Er lenke Menschen «weg von Überzeugungen, die sie anderen entfremden würden, auf deren Unterstützung sie in zahllosen Lebensbereichen angewiesen sind».

Zwar lernt man am meisten von Meinungen, die den eigenen zuwiderlaufen, doch die sind und bleiben unbeliebt. Denn sie stellen die eigenen Gewissheiten in Frage und erzeugen so eine unangenehme «kognitive Dissonanz», wie Psychologen herausgefunden haben. Dick Cheney, der Vizepräsident von George W.Bush, soll ein Hotelzimmer erst betreten haben, wenn im Fernsehen ein konservatives Programm eingestellt war. Donald Trump verfolgt vorzugsweise den Sender Fox News, der ganz auf seiner Wellenlänge liegt.

Meinungsbildung im Mutterleib

Die wahren Gründe für unsere Ansichten sind nicht leicht zu finden. Wissenschafter suchen vorzugsweise am Beispiel politischer Einstellungen nach ihnen. Lange wurden Wahlentscheidungen vor allem mit der Herkunft und dem Elternhaus erklärt, nach dem Muster: Wer katholisch ist und auf dem Land aufwächst, wählt konservativ; klassenbewusste Arbeiter wählen links. Doch so einfach ist es nicht. Zahllose Faktoren tragen dazu bei, welche Meinung ein Mensch zu einer politischen oder sonstigen Frage hat. Und sie haben längst nicht immer mit klugen Überlegungen oder wohlverstandenen Interessen zu tun.

Zugespitzt formuliert, beginnt die Meinungsbildung im Mutterleib, wie Zwillingsstudien zeigen. Gene erklären bis zu 30 Prozent der Unterschiede der Meinungen, die Menschen zu Ausländern haben, 40 Prozent der Ansichten zu Tabuthemen wie den Rechten von Schwulen und 50 Prozent bei politischen Ideologien. «Es ist aber nicht so, dass Menschen liberal oder konservativ geboren werden», sagt der Politologieprofessor Peter Hatemi von der Pennsylvania State University. «Sie werden auch nicht einfach so sozialisiert.» Meinungen bilden sich vielmehr in einem komplizierten Wechselspiel von Umwelteinflüssen und Veranlagung. Dabei gibt es kein Polit-Gen. Vielmehr leisten zahllose Gene jeweils einen winzigen Beitrag zur Meinungsbildung, aber eben nicht direkt. Sie beeinflussen beispielsweise die Produktion von Hormonen und Nervenbotenstoffen. Die wiederum wirken auf den Gefühlshaushalt, Ängste, den Wunsch nach sozialer Verbundenheit und damit letztlich auf politische Neigungen.

Wie Langzeitstudien zeigen, entwickeln sich Dreijährige, die Stress und Ungewissheit schlecht vertragen, eher zu Konservativen. Ihr Gefühl von Unsicherheit führt zum Wunsch nach Recht und Ordnung. Im Schnitt verfügen Konservative sogar über grössere Mandelkerne – zwei Gehirnregionen, die unter anderem bei Ängsten eine Rolle spielen.

Doch Meinungen sind eben nicht vollständig und oft nicht einmal überwiegend genetisch determiniert. Sie sind nicht einmal sonderlich stabil. So glichen niederländische Kadetten der Königlichen Marineakademie ihre Einstellung zum Thema Disziplin innerhalb eines Jahres denen ihrer Freunde an. Wir übernehmen Meinungen auch ein Stück weit von anderen.

Besonders deutlich zeigt sich der Einfluss der Umwelt in schwierigen Zeiten. «Ein Rechter ist ein Linker, der überfallen wurde», spotten die Amerikaner, und wissenschaftliche Befunde gehen in die gleiche Richtung. Umgekehrt rückt eher nach links, wer in einer Wirtschaftskrise seinen Job verloren hat. Die Genetik spielt dann praktisch keine Rolle mehr.

Es sind allerdings keineswegs nur einschneidende Änderungen der Lebenslage, die unsere Ansichten beeinflussen. Wir bilden sie teilweise im Vorübergehen. So ist es keineswegs egal, wo Wählerinnen und Wähler ihre Stimme abgeben. Tun sie es in einer Kirche, was in den USA möglich ist, lässt die religiöse Atmosphäre sie konservativer votieren.

Gefühle als Meinungsmacher

Nun ist es nicht so, dass vernünftige Argumente bei der Überzeugungsarbeit gar keine Chance hätten. Zumindest im psychologischen Labor verlieren die allermeisten Skeptiker ihre Zweifel am Klimawandel, wenn ihnen seine Mechanismen geduldig erklärt werden. Aber um tiefsitzende Abneigungen zu überwinden, reichen Argumente oft nicht.

Aktivisten für die Rechte von sexuellen Minderheiten versuchten es in Miami-Dade County im US-Bundesstaat Florida daher mit einer anderen Methode. Dort hatte die County-Regierung gerade Regeln gegen die Diskriminierung von Menschen erlassen, die sich einem anderen Geschlecht als ihrem biologischen zugehörig fühlen. Die Betroffenen fürchteten jedoch, dass Konservative versuchen würden, die neuen Regeln durch eine Volksabstimmung rückgängig zu machen. Gut 50 Aktivisten zogen daher von Tür zu Tür, um 500 Wahlberechtigte von der neuen Toleranz zu überzeugen. Zunächst erkundigten sie sich nach der Einstellung des Gegenübers und zeigten ein kurzes Video mit Pro- und Kontraposition.

Dann kam das Wichtigste: ein psychologischer Trick. Die Besucher baten die Wähler aus dem gegnerischen Lager, von einer Gelegenheit zu erzählen, bei der sie selbst Vorurteilen ausgesetzt waren, weil sie «anders» waren. Den Betroffenen gehe es genauso, legten die Aktivisten nahe. Das Ganze dauerte nur ungefähr zehn Minuten. Die kurze Begegnung verringerte die Abneigungen gegen die sexuelle Minderheit bei den Besuchten deutlich und dauerhaft – stärker, als sich die Vorurteile gegenüber Homosexuellen in den USA in einem Vierteljahrhundert verändert hatten.

Ob dieser erfolgreiche Versuch, Vorurteile abzubauen, nun ein Appell an den Verstand oder an Gefühle war, darüber liesse sich streiten. Aber vielleicht ist das nicht sinnvoll. Meinungen lassen sich oft nur ändern, wenn auch die Gefühle berücksichtigt werden. Denn sie entstehen eben nicht nur aus rationalen Überlegungen. Das war 1739 schon dem schottischen Philosophen David Hume klar: «Die Vernunft ist und sollte auch nur Sklavin der Leidenschaften sein.»

Jochen Paulus ist Wissenschaftsjournalist; er lebt in Frankfurt.