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Ein Rechter ist ein Linker, der
überfallen wurde Wir glauben zu wissen, warum wir unsere Meinungen ändern. Doch
die Wissenschaft hat entdeckt, dass wir uns täuschen |
Ausgerechnet im Internet, wo bei Meinungsverschiedenheiten
schnell die Fetzen fliegen, wo Ahnungslose und Besserwisser den Ton angeben –
ausgerechnet da soll es einen Hort der zivilen Debatte geben, wie aus dem
Lehrbuch der Demokratie, erträumt von Weisen und Philosophen? Auf
der Website «Change My View» präsentieren Nutzer eine Meinung und fordern
andere auf, diese zu widerlegen, mindestens ein Stück weit. Die ellenlange
Liste der auf Widerspruch wartenden Meinungen reicht von den grossen Fragen
der Menschheit bis zu eher trivialen Überzeugungen: Eine sozialistische
Wirtschaftsordnung wäre gerechter, halbautomatische Waffen gehören verboten,
Lautstärkeregler zum Schieben taugen nichts, dicke Kinder sind Opfer ihrer
Eltern. Die Ansichten sind mit Argumenten unterfüttert und überwiegend ernst
gemeint. «Die
Reichen sollten für Verkehrsdelikte mehr bezahlen als die Armen», postulierte
ein Nutzer mit dem Pseudonym zeek0. Denn, so seine Begründung, Arme würden
eine 150-Dollar-Strafe viel stärker spüren als Reiche, höhere Bussen für
letztere seien daher gerecht. «Ich bin gewillt, mich auf andere Überlegungen
einzulassen und meine Meinung zu ändern, wenn es angebracht ist», fügte zeek0
noch an. Die
anderen Überlegungen liessen nicht lange auf sich warten. Schon nach vier
Tagen listete «Change My View» 676 Kommentare auf und Kommentare zu
Kommentaren. Soll womöglich die Polizei den Tarif für die Strafzettel
festlegen? Nein, das Finanzamt teilt ihr mit, wie reich der Delinquent ist.
Aber das ist ja womöglich gar nicht auf dem neuesten Stand. Ausserdem geben Reiche
da ohnehin nicht ihr wahres Einkommen an. Dieser Einwand erhält von einer
Mitdiskutantin ein Delta (∆) – das mathematische Zeichen für
Veränderung. Sie signalisiert damit, dass das Argument ihre Meinung verändert
hat. Würde eine Strafe für Superreiche nicht absurd hoch ausfallen, wäre aber
für einen Bill Gates selbst dann kaum spürbar, wenn sie sich auf Hunderte von
Millionen beliefe? Würde die Polizei, die mit den Verkehrsbussen ihr Budget
aufbessert, nicht gezielt Jagd auf Reiche machen und sich den ganzen Tag
hinter die Lamborghini-Fahrer klemmen? Dieses Argument leuchtet zeek0 ein. Er
denkt nun, dass sein Vorschlag zu kurz greife: Delta. Kurz, es ist eine
Diskussion, in der viele kluge Argumente vorgebracht und sogar gehört werden. So
ähnlich stellen wir uns Meinungsbildung vor. Wir denken, was wir denken, weil
wir gute Gründe dafür haben. Kritische Geister wie der Schriftsteller Salman
Rushdie haben allerdings ihre Zweifel. «Auf jedem Basar findet man Gründe,
auf jedem Diebesmarkt – bündelweise, im Dutzend billiger. Gründe sind immer
billig, so billig wie die Antworten der Politiker.» Woher unsere Meinungen
wirklich kommen, haben Wissenschafter in zahllosen Untersuchungen zu
ergründen versucht. Die
Internetdebatten bei «Change My View» bieten für sie eine perfekte
Gelegenheit herauszufinden, welche Gründe wirklich Meinungen beeinflussen
können. Hier finden sich riesige Mengen perfekt dokumentierter Beiträge. Die
lassen sich auswerten und dank den Deltas lässt sich statistisch ermitteln,
welche Arten von Beiträgen das grosse und oft vergeblich verfolgte Ziel
erreichen: den anderen zu überzeugen. Der
Informatiker Chenhao Tan von der University of Colorado Boulder hat über
18000 «Change My View»-Diskussionen mit gut einer Million Beiträgen
analysiert. Die konnte er natürlich nicht alle lesen. Stattdessen fahndete er
mit einer Software nach Dialogmustern und sprachlichen Merkmalen, die
Rückschlüsse auf die Qualität der Beiträge nahelegen. Einige Resultate deuten
darauf hin, dass bessere Argumente im Schnitt mehr ausrichten als
schlechtere. So weit, so rational. Die Analyse zeigt aber auch: Die
Verfechter einer These lassen sich eher von Beiträgen beeinflussen, deren
Stil ihrem eigenen ähnelt – unabhängig vom Inhalt. Und schliesslich gilt ganz
schlicht: Wer früh gegenhält, setzt sich mit seinen Einwänden öfter durch.
Die ersten zwei Einwender erzielen dreimal so oft ein Delta wie der zehnte.
Das hat mit Vernunft nicht viel zu tun. Obwohl
die virtuelle Diskussionsarena so angelegt ist, dass sich allein die besseren
Argumente durchsetzen sollen, klappt das also nur teilweise. Woanders haben
Fakten und Logik noch weniger Chancen. Oft liegt das schlicht an den
Interessen der zu Überzeugenden. «Es ist schwierig, einem Mann etwas
verständlich zu machen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht
versteht», pflegte der sozialkritische US-Schriftsteller Upton Sinclair zu
sagen. Häufig
stehen aber gar keine Interessen auf dem Spiel, zumindest keine finanziellen.
Forscher raufen sich die Haare, wenn Eltern ihre Kinder wegen vermeintlich
grosser Gefahren nicht impfen lassen oder wenn Skeptiker den Klimawandel
bestreiten. Die Wissenschafter sehen das Problem meist darin, dass viele
Menschen die oft komplexen Sachverhalte einfach nicht verstünden. Würden die
Impfgegner und Klimawandelleugner nur besser in rationalem Denken geschult,
würden sie ihre irrigen Meinungen hinter sich lassen. Doch das ist nur ein
schöner Traum. Schnelles
falsches Denken Das
demonstrierte vergangenes Jahr Dan Kahan von der Yale University. In einem
Onlineexperiment stellte der Professor für Recht und Psychologie über 2000
Amerikanern folgende Denkaufgabe: Mediziner haben ein neues Medikament gegen
krankhafte Hautveränderungen getestet. 223 der damit Behandelten ging es zwei
Wochen später besser, 75 schlechter. Von denen, die die Crème nicht bekamen,
ging es 107 besser und 21 schlechter. Hat das Medikament geholfen? Die
meisten fangen bei dieser Aufgabe nicht an zu rechnen, sondern nutzen eine
grob vereinfachte Denkstrategie. Sie blicken beispielsweise nur auf
diejenigen, die das Medikament bekommen haben. Der Mehrzahl geht es besser,
also wirkt das Mittel offenbar. Psychologen wie der Nobelpreisträger Daniel
Kahneman sehen in solchen Fällen unser schnelles, automatisiertes Denksystem
am Werk, das sie System 1 nennen. Es ist unabdingbar, denn in vielen
Situationen sollte man sich nicht erst durch langes Nachdenken eine Meinung
bilden. Bei bedrohlichen Krankheitssymptomen macht man besser, was die
Ärztin rät – ohne lange zu googeln. Leider
liegt das schnelle System 1 oft falsch. Das sieht, wer System 2 nutzt, das
auf sorgsames Nachdenken setzt. Im Fall der Hautcrème stellt sich dann
heraus, dass das angebliche Hautmittel nichts taugt. Wenn man rechnet, wird
klar: Der Anteil derer, die gesund werden, ist unter denen grösser, die das
Mittel nicht bekommen haben. Nun
gibt es Menschen, die mit Zahlen besser umgehen können als andere. Kahan
erfasste für seine Studie diese Fähigkeit mit einem Test. Die Erfolgreicheren
schnitten bei der Hautmittelaufgabe wie erwartet besser ab. Braucht die
Bevölkerung also Nachhilfe in Mathematik, damit sie sich in Zukunft anhand
von wissenschaftlichen Befunden die richtige Meinung bildet? Leider wäre es damit
nicht getan, wie ein weiterer Versuch zeigte. Er benutzte die hypothetischen
Zahlen aus der Hautmittelstudie in einem kontroversen Zusammenhang: beim
Waffengesetz. Es
ging um die Wirkung von Waffen auf die Kriminalität. Wenn Waffen verboten
wurden, sank die Kriminalität in 223 Städten und stieg in 75 Städten. Waren
Waffen nicht verboten, sank sie in 107 Städten und stieg in 21. Jetzt
passierte etwas Verblüffendes: Wenn das Ergebnis nicht zu ihrer politischen
Überzeugung passte, lagen die Rechentalente häufiger daneben als die
Mathe-Ignoranten. Analog
der Hautcrèmestudie müsste ein zahlenkundiger linker Waffengegner aus diesen
Zahlen schliessen, dass der Waffenbesitz die Kriminalität senkt. Doch er
beginnt häufig gar nicht erst zu rechnen, wenn der erste Eindruck zu seiner
politischen Meinung passt. Ein Waffenbefürworter hingegen erkennt häufiger,
dass die genaue Analyse der Daten eigentlich für ihn spricht. Dass man es
sich mit einer Meinung bequem macht, ist jedoch nicht nur ein Wesenszug der
politischen Linken. Wenn Kahan die Aufgabe mit vertauschten Zahlen stellte,
waren es die Waffenbefürworter, die nicht nachrechneten. Natürlich
manipuliert niemand absichtlich sein Denken, um sich selbst zu überzeugen;
das würde nicht klappen. Unsere Meinungen entstehen meist ohne unser Zutun,
wir wissen nicht, woher sie kommen. Die subjektiven Gründe für unsere
Ansichten sind nicht unbedingt die wahren. «Unser Motor ist anders geartet,
wir benutzen finstereren Treibstoff», schrieb Rushdie. Abneigungen bis hin
zum Hass spielen eine Rolle, etwa bei Vorurteilen gegenüber Minderheiten. So
erklärt auch der Forscher Dan Kahan, warum die Kraft der Vernunft in seinem
Experiment so kläglich scheitert, während vorgefasste Meinungen triumphieren.
Meinungen definieren unsere Identität und festigen unsere Beziehungen zu
Menschen mit den gleichen Überzeugungen. Wer einen linken Freundeskreis hat,
zweifelt besser nicht am Klimawandel. Wer einen konservativen pflegt, hält
unbegrenzte Zuwanderung nicht ungestraft für eine Bereicherung. Gegenläufige
Berichte, Statistiken und Expertenstatements bedrohen die Harmonie, deshalb
wehren wir sie ab. Kahan sieht einen «psychischen
Selbstverteidigungsmechanismus» am Werk. Er lenke Menschen «weg von
Überzeugungen, die sie anderen entfremden würden, auf deren Unterstützung sie
in zahllosen Lebensbereichen angewiesen sind». Zwar
lernt man am meisten von Meinungen, die den eigenen zuwiderlaufen, doch die
sind und bleiben unbeliebt. Denn sie stellen die eigenen Gewissheiten in
Frage und erzeugen so eine unangenehme «kognitive Dissonanz», wie Psychologen
herausgefunden haben. Dick Cheney, der Vizepräsident von George W.Bush, soll
ein Hotelzimmer erst betreten haben, wenn im Fernsehen ein konservatives
Programm eingestellt war. Donald Trump verfolgt vorzugsweise den Sender Fox
News, der ganz auf seiner Wellenlänge liegt. Meinungsbildung
im Mutterleib Die
wahren Gründe für unsere Ansichten sind nicht leicht zu finden.
Wissenschafter suchen vorzugsweise am Beispiel politischer Einstellungen nach
ihnen. Lange wurden Wahlentscheidungen vor allem mit der Herkunft und dem
Elternhaus erklärt, nach dem Muster: Wer katholisch ist und auf dem Land
aufwächst, wählt konservativ; klassenbewusste Arbeiter wählen links. Doch so
einfach ist es nicht. Zahllose Faktoren tragen dazu bei, welche Meinung ein
Mensch zu einer politischen oder sonstigen Frage hat. Und sie haben längst
nicht immer mit klugen Überlegungen oder wohlverstandenen Interessen zu tun. Zugespitzt
formuliert, beginnt die Meinungsbildung im Mutterleib, wie Zwillingsstudien
zeigen. Gene erklären bis zu 30 Prozent der Unterschiede der Meinungen, die
Menschen zu Ausländern haben, 40 Prozent der Ansichten zu Tabuthemen wie den
Rechten von Schwulen und 50 Prozent bei politischen Ideologien. «Es ist aber
nicht so, dass Menschen liberal oder konservativ geboren werden», sagt der
Politologieprofessor Peter Hatemi von der Pennsylvania State University. «Sie
werden auch nicht einfach so sozialisiert.» Meinungen bilden sich vielmehr in
einem komplizierten Wechselspiel von Umwelteinflüssen und Veranlagung. Dabei
gibt es kein Polit-Gen. Vielmehr leisten zahllose Gene jeweils einen winzigen
Beitrag zur Meinungsbildung, aber eben nicht direkt. Sie beeinflussen
beispielsweise die Produktion von Hormonen und Nervenbotenstoffen. Die
wiederum wirken auf den Gefühlshaushalt, Ängste, den Wunsch nach sozialer
Verbundenheit und damit letztlich auf politische Neigungen. Wie
Langzeitstudien zeigen, entwickeln sich Dreijährige, die Stress und
Ungewissheit schlecht vertragen, eher zu Konservativen. Ihr Gefühl von
Unsicherheit führt zum Wunsch nach Recht und Ordnung. Im Schnitt verfügen
Konservative sogar über grössere Mandelkerne – zwei Gehirnregionen, die unter
anderem bei Ängsten eine Rolle spielen. Doch
Meinungen sind eben nicht vollständig und oft nicht einmal überwiegend
genetisch determiniert. Sie sind nicht einmal sonderlich stabil. So glichen
niederländische Kadetten der Königlichen Marineakademie ihre Einstellung zum
Thema Disziplin innerhalb eines Jahres denen ihrer Freunde an. Wir übernehmen
Meinungen auch ein Stück weit von anderen. Besonders
deutlich zeigt sich der Einfluss der Umwelt in schwierigen Zeiten. «Ein
Rechter ist ein Linker, der überfallen wurde», spotten die Amerikaner, und
wissenschaftliche Befunde gehen in die gleiche Richtung. Umgekehrt rückt eher
nach links, wer in einer Wirtschaftskrise seinen Job verloren hat. Die
Genetik spielt dann praktisch keine Rolle mehr. Es
sind allerdings keineswegs nur einschneidende Änderungen der Lebenslage, die
unsere Ansichten beeinflussen. Wir bilden sie teilweise im Vorübergehen. So
ist es keineswegs egal, wo Wählerinnen und Wähler ihre Stimme abgeben. Tun
sie es in einer Kirche, was in den USA möglich ist, lässt die religiöse
Atmosphäre sie konservativer votieren. Gefühle
als Meinungsmacher Nun
ist es nicht so, dass vernünftige Argumente bei der Überzeugungsarbeit gar
keine Chance hätten. Zumindest im psychologischen Labor verlieren die
allermeisten Skeptiker ihre Zweifel am Klimawandel, wenn ihnen seine
Mechanismen geduldig erklärt werden. Aber um tiefsitzende Abneigungen zu
überwinden, reichen Argumente oft nicht. Aktivisten
für die Rechte von sexuellen Minderheiten versuchten es in Miami-Dade County
im US-Bundesstaat Florida daher mit einer anderen Methode. Dort hatte die
County-Regierung gerade Regeln gegen die Diskriminierung von Menschen
erlassen, die sich einem anderen Geschlecht als ihrem biologischen zugehörig
fühlen. Die Betroffenen fürchteten jedoch, dass Konservative versuchen
würden, die neuen Regeln durch eine Volksabstimmung rückgängig zu machen. Gut
50 Aktivisten zogen daher von Tür zu Tür, um 500 Wahlberechtigte von der
neuen Toleranz zu überzeugen. Zunächst erkundigten sie sich nach der
Einstellung des Gegenübers und zeigten ein kurzes Video mit Pro- und
Kontraposition. Dann
kam das Wichtigste: ein psychologischer Trick. Die Besucher baten die Wähler
aus dem gegnerischen Lager, von einer Gelegenheit zu erzählen, bei der sie
selbst Vorurteilen ausgesetzt waren, weil sie «anders» waren. Den Betroffenen
gehe es genauso, legten die Aktivisten nahe. Das Ganze dauerte nur ungefähr
zehn Minuten. Die kurze Begegnung verringerte die Abneigungen gegen die
sexuelle Minderheit bei den Besuchten deutlich und dauerhaft – stärker, als
sich die Vorurteile gegenüber Homosexuellen in den USA in einem
Vierteljahrhundert verändert hatten. Ob
dieser erfolgreiche Versuch, Vorurteile abzubauen, nun ein Appell an den
Verstand oder an Gefühle war, darüber liesse sich streiten. Aber vielleicht
ist das nicht sinnvoll. Meinungen lassen sich oft nur ändern, wenn auch die
Gefühle berücksichtigt werden. Denn sie entstehen eben nicht nur aus
rationalen Überlegungen. Das war 1739 schon dem schottischen Philosophen David
Hume klar: «Die Vernunft ist und sollte auch nur Sklavin der Leidenschaften
sein.» Jochen
Paulus ist Wissenschaftsjournalist; er lebt in Frankfurt. |