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Drogen, Sex und Schule schwänzen Wie Mädchen sozial auffällig werden |
SWR2 Wissen Drogen, Sex und Schule schwänzenWie Mädchen sozial auffällig werden Von Jochen Paulus
Sendung: Mittwoch, 6. Februar 2019, 08.30 Uhr Redaktion: Sonja Striegl Regie: Andrea Leclerque Produktion: SWR 2019
Auch Mädchen begehen Straftaten, greifen zu Alkohol und Drogen, schwänzen die Schule oder zeigen ein gestörtes Sozialverhalten. Was sind die Ursachen? Wie kann man ihnen helfen?
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Sprecherin: Ein Gruppenraum im Kinderheim des Diakonischen Werks in Würzburg. Sechs Mädchen um die 15 Jahre sitzen mit einer Sozialpädagogin und einer Psychologin im Kreis, wie jede Woche. Heute ist das Thema „Wut“:
O-Ton 1 - Mädchen, Elena Renninger: Renninger: Woran würde ich das jetzt bei dir sehen, wenn du wütend wärst? Wie fühlt sich das an? Mädchen: Ich kriege dann immer so ein Kribbeln in den Fingern und dann knackse ich erst einmal alles. Und dann zeige ich demjenigen, dass ich richtig sauer bin. Renninger: Aber woran spürst du es? Im Körper? Also am Kribbeln in den Fingern? Und noch einmal irgendwas? Mädchen: Ja, ich spüre dann irgendwann, dass es hochkommt. Also, dass ich dann kein Bock mehr habe und dass es mir zu langweilig wird oder sonst was ist und dann kommt es mir einfach hoch. Sprecherin: Die Mädchen haben im Alltag manchmal das Problem, aufkommende Wut zu beherrschen. Dabei wirken sie keineswegs besonders wild, sondern ganz normal. Sie machen auch keinen verwahrlosten Eindruck und gehen nett miteinander um.
O-Ton 2 - Mädchen, Elena Renninger: Renninger: Und hochkommen heißt, vom Bauch steigt die Wut hoch oder ist es eher ein Hals? Mädchen: Vom Bauch. Renninger: Vom Bauch, okay. Wie ist es bei den anderen? Wo merkt ihr die Wut?
O-Ton 2 - Mädchen, Renninger (als Atmo weiter unter Ansage)
Sprecherin: „Drogen, Sex und Schule schwänzen – Wie Mädchen sozial auffällig werden“. Eine Sendung von Jochen Paulus.
O-Ton 3 - Mädchen, Elena Renninger: Renninger: Wo spürst du die Wut? Mädchen: Ja, im Bauch. Anderes Mädchen: Im Bauch? Renninger: Spannt sich an? Mädchen: Ja. Renninger: Zieht sich zusammen? Mädchen: Ne, das fühlt sich so an, als hätte ich da ein Holzbrett, weil ich dann immer so rumdrücke, wenn ich wütend bin, und dann immer so... Renninger: Also so eine Unruhe. Mädchen: Ja.
Sprecherin: Ein Jahr lang nehmen die Mädchen am Programm START NOW teil. Forscher der University of Connecticut haben es entwickelt und in Justizvollzugsanstalten erprobt. Inzwischen gibt es eine deutsche Variante, die sich gut für Mädchen mit Störungen des Sozialverhaltens eignet. „Störungen des Sozialverhaltens“, das ist eine offizielle Diagnose im Krankheitskatalog der Weltgesundheitsorganisation. Die Psychiatrie- Professorin Christine Freitag, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der UniKlinik Frankfurt, koordiniert ein großes europäisches Forschungsprojekt zu Störungen des Sozialverhaltens bei Mädchen. O-Ton 4 - Christine Freitag: Klassisch wäre so ein zwölfjähriges Mädchen, was dann halt einfach abends nicht nach Hause kommt, teilweise auch Sachen klaut, öfter mal ziemlich aggressiv in verbale Auseinandersetzungen mit anderen kommt, sich auch in der Schule nicht mehr an die Regeln hält, oft Schwierigkeiten hat, mit Lehrern, mit Gleichaltrigen. So ist es. Und manchmal, wenn sie Pech haben und es ist eine ganz schwere Störung dann oft auch schon frühes Rauchen und früher Alkoholkonsum, also auch in dem Alter Cannabis probieren. Vielleicht nicht gerade mit zwölf, aber mit 13, 14, ja.
Sprecherin: Solche Probleme sind keineswegs selten. Das zeigt beispielsweise die große deutsche BELLA-Studie zum seelischen Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen. Bei 12 Prozent der Jungen und der Mädchen fanden sich „klinisch bedeutsame Anzeichen“ für Störungen des Sozialverhaltens. Im Alltag allerdings fallen vor allem die Jungs auf, da sie mehr zu aggressivem Verhalten neigen. Mädchen mit Störungen des Sozialverhaltens wurden dagegen lange kaum wahrgenommen. Auch von Wissenschaftlern. Das ändert sich nun mit dem von Christine Freitag koordinierten Forschungsprojekt. Nach dem langen englischen Titel wird es „FemNAT-CD“ [Aussprache deutsch, wie geschrieben, FemNAT als Wort, CD als Buchstaben] abgekürzt. Etwa zwei Prozent der Mädchen und jungen Frauen zeigen nicht nur einzelne Symptome, sondern das volle Bild der Erkrankung, sagt Christine Freitag. Die Mädchen fallen nicht nur anderen unangenehm auf und stören. Sie können auch in Gefahr geraten.
O-Ton 5 - Christine Freitag: Wenn man dann da praktisch nicht interveniert und auch merkt, dass man da was tun muss, dann kann es natürlich schon sein, wenn so ein Kind einem völlig entgleitet, dass die natürlich dann auch, vor allem, wenn die dann auch in diesem Drogenmilieu landen, dass sie natürlich dann durchaus auch mit Männern mitgehen. Meistens mit zwölf noch nicht, aber mit 14, 15 passiert das dann doch schon häufiger. Und natürlich, wenn die Kinder über Nacht wegbleiben, dann ist auch ein hohes Potenzial, dass sie tatsächlich auch mal in die Hände von Falschen geraten und vielleicht vergewaltigt werden, das ist schon sehr hoch.
Sprecherin: Nicht selten führt ein Desaster geradewegs zum nächsten.
O-Ton 6 - Christine Freitag: Wenn mal dieser ganze Weg in Richtung Drogenabhängigkeit gegangen ist, dann ist natürlich leider Beschaffungskriminalität plus natürlich Prostitution auch eine Möglichkeit. Also das ist nicht bei allen so, klar. Aber das hat man eben als Sorge im Hinterkopf, dass es passiert.
Sprecherin: Mal etwas klauen, mal von einer Party betrunken nach Hause kommen – das ist normal für das Jugendalter. Jungs wie Mädchen probieren sich aus und testen Grenzen. Wer einmal von der Norm abweicht, leidet noch nicht an Störungen des Sozialverhaltens, betont Christina Stadler. Sie ist Professorin an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Basel, und ebenfalls an der großen europäischen Studie beteiligt. Die Probleme müssen ein erhebliches Ausmaß annehmen, bevor ein Kind so diagnostiziert wird.
O-Ton 7 - Christina Stadler: Also es ist dann schon eine bestimmte Schwelle, die da erreicht worden ist. Weil wenn einer ein Jahr lang oder dann sechs Monate intensiv diese Merkmale zeigt, dann ist schon das ganze System auch wirklich gefordert und kommt nicht mehr damit zurecht. Dann sagen auch die Lehrer, sie kommen nicht mehr mit dem Kind zurecht. Dann haben die Eltern eben auch Schwierigkeiten, dann ist eine Indikation da, dass wir wirklich etwas tun. Weil sonst, wenn wir nichts tun, dann haben wir eine große Gefahr, dass sich das einfach verfestigt.
Sprecherin: Denn die Probleme wachsen sich in der Regel nicht einfach aus. Ohne therapeutische Begleitung besteht die Gefahr, dass die Mädchen und Jungen als Erwachsene an Angststörungen oder Depressionen erkranken, an körperlichen Beschwerden leiden, früh sterben, sich selbst verletzen oder sich umbringen. Im Erwachsenenalter müssen solche Kinder auch öfter psychiatrisch behandelt werden. Sie haben häufig eine schlechte oder gar keine Arbeit, ihre Freundschaften währen oft nur kurz. Ihre eigenen Kinder werden öfter Gewalt erleben und seltener bei den Eltern leben.
O-Ton 8 - Christine Freitag / Begrüßung [kurz frei, dann unterlegen]: I want to welcome you. It’s very nice that we
can present data … Sprecherin: Januar 2018. In einem repräsentativen Gebäude der Universität Frankfurt hält Christine Freitag die Begrüßungsrede bei einer internationalen Konferenz. Hier berichten die Forscherinnen und Forscher des FemNAT-CD-Projekts von ihren ersten Ergebnissen.
O-Ton 8 - Christine Freitag / Begrüßung (noch einmal hoch):
Sprecherin: Mädchen mit Störungen des Sozialverhaltens sind nicht nur ein „Fall“ für Erzieher, Sozialpädagoginnen oder – notfalls – für die Justiz. Wie Forscherinnen und Forscher erst in jüngster Zeit festgestellt haben, liegt dem abweichenden Verhalten der Mädchen und Jungen häufig ein mangelndes Mitgefühl für andere zugrunde. Sie entwickeln auch weniger Schuldgefühle, wenn sie etwas falsch gemacht haben. Das in der Forschung vielverwendete Diagnosesystem DSM ordnet sie der Untergruppe „mit mangelnden prosozialen Emotionen“ zu. Die Autoren hätten auch einen alarmierenderen Begriff wählen können. Christina Stadler ist froh, dass sie es nicht getan haben.
O-Ton 9 - Christina Stadler: Im Erwachsenenalter würde man das als psychopathische Persönlichkeitseigenschaften benennen, aber das war schon sehr wohl bedacht, dass man es bei Kindern und Jugendlichen nicht so nennt, denn die Kinder sollen nicht stigmatisiert sein. Aber es macht schon Sinn zu sagen: Es gibt Kinder, die haben ein bestimmtes Temperamentsmerkmal, die lernen auch schlechter, also bei denen fällt das soziale und emotionale Lernen ist schwieriger.
Sprecherin: Menschen mit diesen Eigenschaften stellen unter Erwachsenen den harten Kern der Straftäter. Manche mögen auch in der rechts- oder linksextremen Szene landen, doch untersucht hat das niemand. Die Betreffenden werden zwar längst nicht immer kriminell, darauf legt Christina Stadler großen Wert. Allerdings ist es bei ihnen vielleicht noch wichtiger als bei anderen Kindern, dass sie unter guten Bedingungen aufwachsen.
O-Ton 10 - Christina Stadler: Man könnte denken, die brauchen vielleicht ganz besonders strenges Reglement. Die brauchen gerade sehr wohl sehr warmherzige Eltern und die sie sehr auch unterstützen. Und auch da gibt es eben diese Gen-Umwelt-Interaktion. Also es kann ein Schutzfaktor sein, wenn man bei den Kindern eben gerade sehr, schon konsequent, aber trotzdem auch wertschätzend und liebevoll ist, brauchen die genauso.
Sprecherin: Einfach ist die Erziehung solcher Kinder allerdings nicht.
O-Ton 11 - Christina Stadler: Die Eltern werden mehr Schwierigkeiten haben, sie wirklich, ja, moralisches und soziales Lernen beizubringen. Aber sie sollten nicht aufhören, es ihnen beizubringen. Es ist jetzt nicht so, dass wenn man diese Eigenschaften hat, eben beispielsweise unsere evidenzbasierten Trainings nicht wirken, und das wäre das falsche Signal.
Sprecherin: START NOW ist eines dieser wissenschaftlich belegten Trainingsprogramme. Christina Stadler untersucht in der FemNAT-CD genauer, wie es wirkt. Im Rahmen der Studie hat auch das Würzburger Kinderheim START NOW ein Jahr lang erprobt und arbeitet nun weiter damit.
O-Ton 12 - Mädchen, Elena Renninger, Rebecca Wagner (Atmo: Gruppe Start Now, unterlegen unter Sprecherin)
Sprecherin: Schule schwänzen, früher Drogenmissbrauch, frühe sexuelle Erfahrungen. Mädchen mit solchen Störungen des Sozialverhaltens waren oft Opfer von Gewalt, sind in einer aggressiven Umgebung aufgewachsen und haben gelernt, selbst schnell aggressiv zu reagieren. Die Mädchengruppe im Würzburger Kinderheim arbeitet mit einem speziell entwickelten Buch. Seine Heldin und Identifikationsfigur ist Emma. Sie wird auch schnell wütend. Im Kapitel, aus dem ein Mädchen heute vorliest, hat Emma bei ihrem Hockey-Spiel den Schiedsrichter als „blinden Idioten“ beschimpft, weil der ihrer Meinung nach falsch gepfiffen hat. Die Sozialpädagogin Elena Renninger und die Psychologin Rebecca Wagner nehmen die Geschichte als Ausgangspunkt, um über die Wut der Mädchen zu sprechen:
O-Ton 12 - Mädchen, Elena Renninger, Rebecca Wagner: Renninger: Das war jetzt bei Emma der Auslöser. Was sind bei euch so typische Auslöser? Was kennt denn ihr, was Auslöser sind für Wut? Wagner: Du siehst so aus, als wüsstest du, was bei dir der Auslöser ist. Was kannst du überhaupt nicht leiden? Mädchen: Wenn jemand mir zu nah kommt und seine Hand gegen mir... Renninger: …erhebt? Also wenn jemand zum Beispiel so macht? Mädchen: Nein, wenn er mir ganz nahesteht, sodass er mir schon direkt ins Gesicht spucken kann und dann noch seine Hand hebt und mir droht, ich schlage dich. Renninger: Das löst bei dir Ärger und Wut aus. Also es kann ja auch Angst zum Beispiel auslösen. Mädchen: Das habe ich von meiner Mutter beigebracht bekommen. Also wenn mir jemand zu nahekommt, und mir mit der Hand droht, dann soll ich zuschlagen. Renninger: Okay, also du hast dann gleich so einen Kämpferinstinkt. Deswegen führt es immer wieder zu Stress. Das ist dann klar.
O-Ton 13 - Mädchen, Elena Renninger: Renninger: Was ist bei den anderen? Was kennt ihr, so typische, jeder hat ja so typische? Mädchen: Weil ich gerade im Heim bin und wir sind ja zehn Kinder. Und wenn wir halt abends nach dem Essen und die Erzieher das vorne machen, dann sitzen wir da und dann ist einer laut und dann wird teilweise geschrien, sei doch mal leise, obwohl ich nicht einmal irgendetwas gesagt habe. Renninger: Was ärgert Dich daran? Mädchen: Ja, weil ich beschuldigt werde, obwohl ich überhaupt diejenige bin, die eigentlich am leisesten ist, was sogar die Erzieher sagen. Renninger: Also auch die Ungerechtigkeit, die empfundene Ungerechtigkeit? Mädchen: Ja.
Sprecherin: Haben solche Probleme die Mädchen in ihrem bisherigen Leben in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht? Was haben sie in ihrem Elternhaus erlebt? Warum sind die Mädchen sozial auffällig? Das muss offenbleiben, persönliche Interviews mit ihnen sind nicht möglich. Allgemeine Antworten gibt die Leiterin des europäischen Forschungsprojektes. Störungen des Sozialverhaltens haben zunächst einmal eine starke genetische Komponente, Experten sprechen von Heritabilität - Erblichkeit:
O-Ton 14 - Christine Freitag: Es ist ganz klar, dass es sowohl für Störungen des Sozialverhaltens als auch für diese Spezifizierung dieser fehlenden prosozialen Emotionen, da gibt's auf jeden Fall genetische Risikofaktoren und eine biologische Veranlagung. Und das darf man nicht unterschätzen, die ist aber, die ist ungefähr ähnlich wie bei Angststörungen, also es ist auch nicht 100 Prozent, man spricht von einer Heritabilität von ungefähr 50 Prozent.
Sprecherin: Welche Gene genau verändert sind, dazu haben Christine Freitag und ihre Kollegen noch keine Daten. Erforscht werden muss auch, welche Rolle dabei die Umgebung spielt, in der die Kinder aufwachsen. Auf jeden Fall unterscheiden sich die Gehirne von Kindern mit Störungen des Sozialverhaltens in einigen Regionen von denen anderer Kinder. Der Hirnforscher Graeme Fairchild von der University of Bath im Süden Englands und seine Kollegen haben im Rahmen der FemNAT-CD-Studie die Gehirne von über 800 Kindern und Jugendlichen untersucht. Es war nicht leicht, sie dafür zu gewinnen, sich in die Röhre eines Magnetresonanztomografen schieben zu lassen. Aber etwas Geld und ein Bild des eigenen Gehirns halfen. Das Bild konnten die Kinder mit nach Hause nehmen. Die Befunde passen zu den Auffälligkeiten der Kinder: Verändert sind die Gehirnregionen, die am Verstehen von Emotionen beteiligt sind, auch am Gefühl der Empathie. Die Bahnen, die verschiedene Gefühlsregionen miteinander verbinden, sind ebenfalls nicht ganz so wie bei anderen Kindern. Außerdem sind einige Großhirnbereiche dünner, die beim Vorbereiten von Entscheidungen mitwirken.
Diese Erkenntnisse helfen den Fachleuten nachzuvollziehen, woher die Schwierigkeiten der Mädchen kommen. O-Ton 15 - Christine Freitag: Wenn die große Emotionsregulationsprobleme haben, was ja bei vielen auch der Fall ist, gibt es natürlich auch dieses Thema Selbstverletzung, ist sicher auch häufig.
Sprecherin: Auch in der Würzburger START NOW-Gruppe erwähnt ein Mädchen problematische Methoden, seine Gefühle zu regulieren.
O-Ton 16 - Mädchen, Elena Renninger: Renninger: Und wo steckst du das Gefühl dann hin? Mädchen: In die Hosentasche. Renninger: Du hast es dann in der Brust und das ist wie beklemmend? Mädchen: Also dieses Gefühl kenne ich auch. Wie Du gerade gesagt hast, Zigarette. Zweites Mädchen: Also zu mir wurde gesagt, ich soll mich nicht ritzen, dann ist Rauchen besser, also Rausgehen und Rauchen ist dann für die Erzieherin besser, als wenn ich mich ritzen würde. also das war der schönste Satz, den sie mir erzählen konnte. Eine Erlaubnis, rauchen zu gehen, wenn ich Stress habe. Ha, schön. Renninger: Okay.
Sprecherin: Unterschiede im Gehirn müssen keineswegs angeboren sein. Sie können die Folge von Erfahrungen sein, die Kinder gemacht haben. Das gilt auch für eine der stärksten Auffälligkeiten von Kindern mit Störungen des Sozialverhaltens, sagt Christine Freitag: Die Art wie sie auf Momente reagieren, die Angst machen. Wird ein Kind häufig geschlagen, zuckt es schon zusammen, wenn der Vater nur die Hand hebt. Fachleute nennen solche automatischen Reaktionen „Konditionierungen“. Im psychologischen Labor lässt sich untersuchen, wie leicht Kinder solche automatischen Reaktionen auf Bedrohungen lernen. Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens erleben oft von klein auf besonders viele bedrohliche Situationen und man könnte erwarten, dass sie deshalb besonders schnell lernen, ängstlich zu reagieren. Aber so ist es nicht.
Ton 17 Christine Freitag: Was wir wissen aus Studien ist, dass die Kinder oft weniger Angst haben, wenn dann ein Angstreiz kommt, diese Konditionierungsreaktion läuft anders. Das heißt, da weiß man eben auch nicht, ist es angeboren so. Könnte sein. Es könnte tatsächlich angeboren sein, dass die einfach weniger sensitiv sind auch bezüglich Ängste konditioniert zu werden. Es kann sein, dass die einfach früh starken angstauslösenden Erfahrungen ausgesetzt waren und dann das ganze System runterreguliert wurde, dass dann nimmer so konditionierbar sind, weil sonst das praktisch das System überfordert hätte.
Sprecherin: Das würde heißen: Das Gehirn der Kinder hat gelernt, auf Angriffe nicht mehr mit besonderen Gefühlen zu reagieren. Das mag in einem Elternhaus, in dem das Kind viel Gewalt und Bedrohung erfährt, das Beste sein. Es hat aber Folgen für die Entwicklung seiner Gefühlswelt, auch wenn die genauen Abläufe noch nicht bekannt sind. Solche Kinder können nämlich oft mit den schönen Seiten des Lebens wenig anfangen.
O-Ton 18 - Christine Freitag: Und was ich sehr eindrücklich fand, ist, dass dieses Belohnungssystem sich so verändert. Also dass das gar nicht mehr richtig anspringt. Die Kinder sind durch viele Dinge gar nicht mehr zu begeistern. Und das ist das, was man auch in der Therapie ja oft sieht. Dass man das Gefühl hat, man kommt an die Kinder gar nicht ran. Also gerade die misshandelten Kinder, dass sie ganz lange brauchen, bis sie etwas schön finden oder dass sie begeisterungsfähig sind für Irgendetwas. Und das fand ich sehr spannend auch bei den Ergebnissen, dass das Belohnungssystem da auch tatsächlich durch Misshandlung sich deutlich verändert.
Sprecherin: Misshandlungen tragen oft dazu bei, dass Kinder Störungen des Sozialverhaltens entwickeln. Sie lernen dann, sich mit Gewalt zu wehren – vor allem Jungs. Vater oder Mutter machen es ja vor. 27 Prozent aller Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens haben sexuelle Übergriffe erlebt - von unterwünschten Berührungen bis zu Vergewaltigungen. Bei den Mädchen sind es 44 Prozent. Zu diesen Zahlen kam 2014 eine Auswertung von 23 Studien, für die gut 7000 Betroffene befragt wurden.
Auch solche traumatischen Erfahrungen machen es schwer, positive Gefühle zu entwickeln und mit negativen vernünftig umzugehen. Das hat Folgen. Wenn die Probleme der Mädchen sehr groß sind und die Eltern sie nicht auffangen können, landen viele Mädchen in einem Heim.
O-Ton 19 - Elena Renninger (evtl. kurz anspielen, dann als Atmo unterlegen)) / Es ist alles aus Holz, natürliche Materialien …
Sprecherin: Ein Rundgang durch das Kinderheim des Diakonischen Werks in Würzburg. Die beiden Gruppenleiterinnen Elena Renninger und Rebecca Wagner führen durch freundlich wirkende Zimmer und Gänge.
Ton 19 Elena Renninger (ab „hier wird jetzt“ evtl. noch kurz unterlegen): Wir wollen keine Klinik, wir wollen keinen Gang, wo links und rechts die Räume weg gehen, so schauen auch unsere Wohngruppen nicht aus, sondern sehr wohnlich, sehr ansprechend, einfach, ich mein, wenn wir nach Hause gehen, sieht es auch nicht aus wie in einer Klinik. Warum sollen die Kinder hier das haben?
Sprecherin: Die Kinder und Jugendlichen leben hier ein Jahr, oder mehrere Jahre. Teilweise sind Mädchen und Jungen zusammen in Gruppen, teilweise sind die Mädchen für sich. Die meisten besuchen normale Schulen. Einige können das nicht und werden im Heim unterrichtet.
O-Ton 20a - Elena Renninger [frei, dann unterlegen]: (Tür fällt klangvoll zu) Wollen wir noch ins Spielzimmer? (Schritte). Wir machen immer eine Ski-Freizeit. Wir ermöglichen Freizeiten, meistens was Erlebnispädagogisches. Und die Ski-Freizeit ist eben ein Teil davon. Es ist immer ganz interessant, mit so 40, 50 Kindern, da ist was geboten eine Woche lang. Da geht es richtig ab. Ne, es ist total interessant und die Erfolge sind noch mal andere. Also da lernen Kinder Skifahren, wo da glaube ich vorher jetzt niemand mit gerechnet hat. Oder die auch wirklich noch nie Schnee zum Teil gesehen haben oder nicht wussten, was Skifahren ist. (Schritte).
Sprecherin: Die Bewohnerinnen der Wohngruppe kochen selbst und essen zusammen, die Zentralversorgung wurde schon vor Jahren abgeschafft. Das Leben soll wie in einer Familie sein, nicht wie in einer Institution.
O-Ton 20b - Elena Renninger [wieder hoch]: (Schritte) Oh, das Spielzimmer ist besetzt. (Tür quietscht) Hier ist das Spielzimmer. Hier einfach auch die Möglichkeit mit Höhlen, wo man sich verstecken kann, wo man ganz sich richtig zurückziehen kann, wo man vielleicht auch was lesen kann oder auch vorliest. Möglichkeit, Theater zu spielen, Puppenhaus zu spielen. Das ist nicht zu unterschätzen, wie wichtig für die Kinder und Jugendlichen Spielen ist. Also auch für die großen. Das denkt man manchmal gar nicht. Also auf der Ski-Freizeit zum Beispiel war ich zuständig für recht große Kinder und habe denen auch zum Einschlafen Geschichten vorgelesen. Und die fanden es total toll, hätten sie niemals zugegeben, weil dafür sind sie einfach zu cool.
Sprecherin: Die Einrichtung hat auch zwei geschlossene Gruppen. In ihnen bekommt ein Kind in der ersten Zeit gar keinen Ausgang, dann nur nach strengen Regeln. 2016 wurde in Deutschland für über 15 000 minderjährige Jungen und Mädchen der Antrag gestellt, sie in geschlossenen Gruppen unterzubringen. Das waren fast dreimal so viele Anträge wie noch zehn Jahre zuvor. Es gibt keine Statistik dazu, wie viele Minderjährige zeitweise in geschlossenen Gruppen leben mussten. Allerdings kann es nur ein Bruchteil sein, denn so viele Plätze gibt es in Deutschland nicht. Fachleute wie die Sozialpädagogin Prof. Sigrid James von der Universität Kassel, deren Spezialgebiet die „Versorgungsforschung“ ist, sehen die Unterbringung außerhalb der Familie ohnehin kritisch. Ton 21 Sigrid James: International ist es halt wirklich der Push momentan, dass man versucht eben, eine Inobhutnahme, eine Fremdpflege zu verhindern und stattdessen eben schon im Vorfeld versucht, mit den Eltern zu arbeiten, sie zu stärken, um überhaupt nicht an diesen Punkt zu kommen. Denn wenn man an dem Punkt ist, manchmal ist es natürlich notwendig, aber wenn man an dem Punkt ist, dann wird die Biografie des Kindes natürlich noch komplizierter. Und das, was eigentlich schützen soll, wird dann unter Umständen ein Risikofaktor.
Sprecherin: Darum plädiert die Professorin dafür, besser den Eltern dabei zu helfen, mit den Problemen ihrer schwierigen Kinder fertigzuwerden – und oft auch ihren eigenen. Das geht am besten mit Programmen, die nicht nur die ganze Familie einbeziehen, sondern je nach Lage der Dinge auch die Schule, den Freundeskreis und die Nachbarn. Die Praxis sieht anders aus.
O-Ton 22 - Sigrid James: Da ist eine Riesenkluft und wir wissen, dass immer wieder, dass die effektivsten Programme eigentlich am wenigsten genutzt werden.
Sprecherin: Oft reicht es nur zur Arbeit mit den Eltern. Reine Erziehungstrainings für Mutter und Vater helfen bei Kindern mit nicht allzu schweren Verhaltensproblemen durchaus. Aber in schweren Fällen braucht es umfassendere Programme, sagt Sigrid James. Sie sind aufwendig, doch sie bringen am meisten. Wo andere Versuche schon im ersten Schritt scheitern, haben sie mehr Erfolge.
O-Ton 23 - Sigrid James: Die erreichen wesentlich mehr Eltern als das, was so gängig angeboten wird. Und das heißt, dass man eben hinterhakt. Zum Beispiel schaut man, gibt's Barrieren, die die Eltern davon abhalten, hier mitzumachen? Das heißt, fehlt es denen vielleicht am Babysitter? Brauchen die Hilfe, damit sie mitmachen können? Und solche Fragen, wo man vielleicht in der Kinder- und Jugendhilfe sich keine Gedanken drüber machen würde und sagen würde, der kommt halt nicht. Ja, aber der hat vielleicht kein Geld für ein Busticket.
Sprecherin: Gerade in schweren Fällen, wenn ein Mädchen etwa auf der Straße gelebt hat, reicht es nicht, die Bemühungen auf das Kind zu konzentrieren. Solche umfassenden Programme lassen sich nur umsetzen, wenn die verschiedenen Einrichtungen zusammenarbeiten, die den Kindern und ihren Familien helfen wollen. Doch das scheitert häufig an Kompetenzstreitigkeiten, kritisiert die Kinder- und Jugendpsychiaterin Prof. Christina Stadler.
O-Ton 24 - Christina Stadler: Also, dass die Therapeuten sagen, ja, wir sind die führenden, dann sagen die Sozialhilfeeinrichtungen, wir lassen in unsere Einrichtungen aber jetzt nicht die Kinder- und Jugendpsychiatrie rein, weil wir wollen nicht psychiatrisieren unsere Kinder. Oder wir wollen eben nicht so sehr zusammenarbeiten. Und das ist vollkommen kontraproduktiv, also die Professionen müssen zusammenarbeiten, weil dann haben wir den besten Output für unsere Kinder. Und da braucht es eben sowohl die Medizin, als auch die Psychologie, als auch wirklich Sozialpädagogik und die Pflegehilfe und alle zusammen.
Sprecherin: Versorgungsforscherin Sigrid James, die lange in den USA gelebt und geforscht hat, sieht das genauso.
O-Ton 25 - Sigrid James: Die Interdisziplinarität ist einfach eine Grundlage. Das geht nicht ohne. Und da erlebe ich halt Deutschland auch sehr starr. Und ich glaube, ich glaube schon, dass Deutschland hat ein sehr stabiles Wohlfahrtssystem, aber dadurch auch ein sehr rigides. Es ist schwer, also, es fängt auf, aber es ist sehr schwer, es zu ändern. Und in den USA ist es ein sehr lückenhaftes, sehr fluides, in manchen Bereichen vielleicht dysfunktionales System, aber es erlaubt größere Freiheit zu kreieren und auch innovativ irgendwo zu sein.
Sprecherin: Das deutsche Sozial- und Gesundheitssystem erlaubt und finanziert vielfältige Hilfen und Therapien für Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens. Doch die meisten werden nicht behandelt. Weder allein noch zusammen mit ihrer Familie. Allerdings können die Maßnahmen auch nicht jeder Familie helfen.
O-Ton 26 - Christina Stadler: Das klappt immer dann gut, wenn wir kompetente Eltern haben, die die Power haben, die die Kraft haben. Und wenn Eltern selbst sehr belastet sind, dann sind auch diese Interventionen weniger wirksam. Das ist beispielsweise bei Eltern der Fall, die selber psychisch krank sind. Also Eltern, die eine depressive Erkrankung haben, Eltern die selber auch vielleicht straffällig sind, die ein Alkoholproblem haben, die können diese Strategien weniger gut umsetzen. Und dann beraten wir Eltern beispielsweise selber eine Therapie zu machen. Weil sonst sind wir nicht effektiv.
O-Ton 27 - Mädchen, Elena Renninger (Anfang als Atmo unterlegen, dann frei): Renninger: Der Punkt ist nämlich, dass es sich tatsächlich für viele so anfühlt... Mädchen: ... Aber es eigentlich nicht so ist. Renninger: Genau, aber eigentlich ist es gar nicht so...
Sprecherin drüber: In der Würzburger START NOW-Gruppe geht es nun um die Frage, ob und wie sich Wut stoppen lässt. Die sechs Mädchen haben den Eindruck, dass ihre Wut extrem schnell hochkocht:
O-Ton 27 - Mädchen, Elena Renninger: Renninger: Und was weißt du da schon dazu, wie da man das vielleicht lernen kann? Mädchen: Wenn man sich zum Beispiel aufregt, weil die Betreuer plötzlich sagen, ja, du musst aber noch die Wäsche aufhängen. Du hast einen Dienst. Vorher gehst du nirgendwohin. Und dann gehe ich auch von null auf 180, wo ich mir eigentlich hätte denken können, bevor ich in den Ausgang gehe, schaue ich, liegt da Wäsche, kann ich zusammenfalten, dann erst zusammengefaltet, dann gefragt und dann wäre ich auch nicht gleich erst auf 180 gewesen.
Sprecherin: Wut entsteht meist gar nicht so plötzlich. Sie baut sich auf. Die Mädchen sollen lernen, es rechtzeitig zu spüren, wenn Wut in ihnen zu kochen beginnt. Sie sollen lernen, ihre ungestümen Gefühle zu kontrollieren. Dafür steht auch der Name des Programms START NOW. Er ist eine Abkürzung für Slow Down, Take a Distance, Accept, Respect, Take Action – Schalte einen Gang herunter, tritt einen Schritt zurück, akzeptiere, respektiere, handele. Wenn die Mädchen das lernen, dann sind sie nicht mehr hilflose Opfer aufwallender Gefühle.
O-Ton 28 - Mädchen, Elena Renninger: Renninger: Und das ist genau der Punkt. Man hat es in der Hand. Man kann es selbst steuern. Man muss es nur lernen. Mädchen: Und wollen. Renninger: Und wollen. Ja. Was wir nächstes Mal noch mit euch machen wollen ist, dass es quasi für den Bereich, wo man so hochkocht, gibt es ganz viele Sachen, die einem helfen können, dass man doch noch aussteigt. Mädchen: Skills. Renninger: Genau, Skills. Du kennst das Wort schon. Mädchen: Ja.
Sprecherin: Für heute ist die Stunde zu Ende.
O-Ton 29 - Mädchen, Elena Renninger, Rebecca Wagner: Renninger: Ihr könnt mal eure Blätter in die Ordner einheften und dann machen wir die Abschlussrunde. Dürft Ihr euch Zettel nehmen und Stifte nehmen und entweder eure Boxen bestücken oder unseren Sorgenfresser. Mädchen: Ich habe aber nichts. Wagner: Für niemanden in der Gruppe? Noch mal zur Erinnerung: Auf den Zettel kommt ja eine positive Botschaft für jemand anderen in der Gruppe. (Mädchen protestieren und reden dabei durcheinander)
Sprecherin: Dazu haben viele allerdings keine Lust, es erhebt sich Protest.
O-Ton 30 - Collage: Mädchen: Wir wurden die ganze Zeit gezwungen. Wagner: Weil Ihr das letzte Mal zu faul wart, habe ich gesagt, jeder muss mal einen schreiben. Mädchen: Ich schreib‘ sonst immer einen. Zweites Mädchen: Ja, ich auch.
Sprecherin: Aber die Aufgabe lässt sich ja schnell erledigen, es ist ohnehin kaum noch Zeit.
O-Ton 31a - Mädchen, Elena Renninger: Renninger: So, Ihr Lieben. Dann wünschen wir euch... (Mädchen unterhalten sich noch ein bisschen über irgendwas)
Sprecherin: Es dauert einen Moment, bis alle wieder zuhören.
O-Ton 31b - Mädchen, Elena Renninger: ... dann wünschen wir euch eine schöne Woche. Mädchen: Dir auch. Renninger: Viel Erfolg für die verbleibenden Prüfungen. Morgen und am Montag ist es bei dir, ne? Mädchen: Tschüss.
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