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Auf dem Papier ist jeder mutig -
Forschung in der Psychologie

von Jochen Paulus
(Die Zeit, 24.09.2009)

 

Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie sitzen in einem Seminarraum an der Uni und füllen einen Fragebogen aus, ein anderer Teilnehmer im Raum tut das Gleiche. Plötzlich steht er auf, schnappt sich einen Computer-Speicherstick, der am Jackenständer hängt, und fragt dreist: »Ist das Ihrer? Nein? Dann ist es jetzt meiner.« Widersprechen Sie? Melden Sie den Diebstahl dem Versuchsleiter, sobald er wiederkommt?

 

In Befragungen behauptet etwa jeder Zweite, er würde in einem solchen Falle Zivilcourage zeigen und den Missetäter zur Rechenschaft ziehen. Doch Psychologen der Universität Göttingen wollten es genauer wissen: Sie stellten die Situation an ihrer Universität nach und beobachteten, wie ihre Probanden reagierten. Ergebnis: Gerade mal drei von zwanzig Studienteilnehmern stellten sich dem vermeintlichen Dieb in den Weg.

 

Wie Menschen handeln, hat also oft nicht viel mit dem zu tun, was sie sagen. Dennoch beschränken sich nahezu alle psychologischen Studien zum Thema Zivilcourage auf Befragungen; man gibt hypothetische Situationen vor und registriert die Antworten der Probanden. »Das ist Quatsch, darauf kann man sich überhaupt nicht verlassen«, folgert der Göttinger Psychologie-Professor Stefan Schulz-Hardt aus seinem Experiment.

 

Diese Art von Lebensferne ist symptomatisch für die psychologische Forschung. Vor Jahrzehnten organisierten ihre Vertreter mitunter erschreckend realistische Studien (siehe Kasten), heute lassen sie ihre Probanden meist nur noch Fragebögen ausfüllen oder am Computer Aufgaben bearbeiten. Der Psychologe Roy Baumeister, einer der meistzitierten Vertreter seines Fachs, höhnt über diese Herangehensweise: »Menschliches Verhalten findet praktisch immer im Sitzen statt, gewöhnlich vor einem Computer. Fingerbewegungen wie beim Tippen oder Ankreuzen mit einem Stift machen den Großteil menschlicher Aktivität aus.«

 

Belege für diesen Trend findet Baumeister etwa im Journal of Personality and Social Psychology , der führenden Fachzeitschrift der Sozial- und Persönlichkeitspsychologie. Als Baumeister mit einigen Kollegen kürzlich diverse Nummern des Journals auswertete, zeigte sich, dass nur 20 Prozent der jüngsten Studien sich mit echtem Verhalten befassten. Vor drei Jahrzehnten waren es noch 80 Prozent.

 

Dabei waren es gerade die lebensnahen Experimente der Vergangenheit, die überraschende Erkenntnisgewinne brachten und bis heute als Marksteine der Psychologie gelten. Heute dagegen wird ein Großteil der psychologischen Forschung so geplant, dass man mit bescheidenem Aufwand schnell viele Daten sammeln kann. Das ist für viele Fragestellungen sinnvoll, für viele andere jedoch keineswegs. Ironisch kommentiert der emeritierte Hamburger Psychologie-Professor Kurt Pawlik diese Entwicklung: Früher sei die Psychologie gerne als »Seelenwissenschaft ohne Seele« verspottet worden, heute könne man sie als »Verhaltenswissenschaft ohne Verhalten« bezeichnen.

 

Fragebögen führen nicht nur beim Thema Zivilcourage in die Irre, sondern auch, wenn es um die Liebe geht. In Befragungen legen Männer meist viel Wert auf die Schönheit einer Partnerin, während Frauen Geld ausgesprochen sexy finden. Aber entscheiden sie sich tatsächlich danach? Paul Eastwick und Eli Finkel von der Northwestern University baten Singles zum Speed-Dating. Sie durften sich im Vierminutentakt mit einem Dutzend Kandidaten unterhalten. Ergebnis: Die Teilnehmer entschieden sich häufig ganz anders, als sie vorher behauptet hatten.

 

Eine Frau beispielsweise hatte sich ausdrücklich einen Mann mit guten Karriereaussichten gewünscht. Doch dann entflammte sie für einen Posaunisten, der von einem nicht eben einträglichen Engagement auf einem Kreuzfahrtschiff träumte. »Die romantischen Entwicklungen beim Speed-Dating und im Monat danach hatten wenig mit den Angaben in den Fragebögen zu tun«, sagt Finkel.

 

Weil sich mittlerweile herumgesprochen hat, wie unzuverlässig die üblichen Fragebögen sind, ist in den vergangenen Jahren der sogenannte Implizite Assoziationstest (IAT) in Mode gekommen. Er soll unter anderem in der Lage sein, Vorurteile zu entlarven, die ihren Besitzern selbst nicht bewusst sind. Ein Proband muss zum Beispiel am Computer möglichst schnell eine Taste drücken, wenn das Gesicht eines Weißen auf dem Monitor aufleuchtet, und eine andere für das eines Farbigen. Ebenso muss er auf positive Wörter (»Freude«) oder negativ besetzte (»Wut«) bestimmte Tasten pressen. Falls er besonders schnell ist, wenn dieselbe Taste für Farbige und negative Wörter zuständig ist, soll dies auf Vorurteile deuten.

 

So weit die Theorie. Doch was ist mit der Praxis? Gerade hat der IAT-Erfinder Anthony Greenwald von der University of Washington zusammengefasst, wie gut sein Test tatsächlich Verhalten vorhersagt. Das Ergebnis von 122 Studien mit zusammen 14900 Teilnehmern: In einigen heiklen Bereichen wie Rassismus schneidet der IAT etwas besser ab als das zweifelhafte Ergebnis von Befragungen – aber nur, weil die in solchen Fällen extrem unzuverlässig sind. Bei politischen Vorlieben, Drogenkonsum, sexueller Orientierung und vielem anderen ist der IAT dagegen sogar noch schlechter als die Fragebögen.

 

Doch obwohl Psychologen wissen, dass schriftlichen Angaben nicht zu trauen ist, verlassen sie sich selbst dann auf sie, wenn einiges auf dem Spiel steht. So gibt es mittlerweile etliche Programme, in denen Kinder Zivilcourage lernen sollen. Wie prüfen die Psychologen, ob die Kinder anderen hinterher eher zu Hilfe kommen? Sie fragen die Kleinen, was sie tun würden. Der Psychologie-Professor Dieter Frey von der Ludwig-Maximilians-Universität hat selbst einige Trainings mitentwickelt, räumt aber ein: »Der Zustand ist total verbesserungswürdig.«

 

Eigentlich waren die unnützen Befragungen das Ergebnis eines Versuchs, die Forschung besser zu machen. Angesehene Fachzeitschriften veröffentlichen heute meist nur noch Aufsätze, in denen gleich mehrere Studien zu einem Phänomen beschrieben werden, um es so möglichst genau einzukreisen. Diese Anforderung aber hat zur Folge, dass viele Forscher auf Methoden zurückgreifen, die schnell viele Daten generieren – Fragebögen, die schnell verteilt sind, oder eben den IAT, der im Internet praktisch vollautomatisch läuft. Wollten dagegen die Göttinger Forscher um Stefan Schulz-Hardt ihr Zivilcourage-Experiment in immer neuen Varianten praktisch durchführen, würden sie Jahre brauchen. Das ist »eigentlich unverantwortlich«, sagt Schulz-Hardt. Im Kampf um Stellen bekämen seine Nachwuchswissenschaftler im Vergleich mit den Fragebogen-Spezialisten auf diese Weise niemals genug Publikationen zusammen.

 

Psychologen, die nicht nur im Labor, sondern im wirklichen Leben Experimente veranstalten, haben es besonders schwer. Der berühmteste von ihnen ist Robert Cialdini von der Arizona State University. Er hat als Verkäufer in einem Autohaus systematisch verschiedene Verkaufstricks getestet. In einem anderen Versuch haben seine Mitarbeiter Abfall in der Gegend verteilt, um herauszufinden, wann Menschen dies nachmachen. Auf diese Weise hat Cialdini zahlreiche Erkenntnisse dazu geliefert, wie sich Menschen im wirklichen Leben verhalten, etwa in puncto Umweltschutz.

 

Doch als er jetzt mit 64 Jahren vorzeitig seinen Lehrstuhl räumte, klagte er bitter über die oft kontraproduktiven Anforderungen seiner Zunft. Ihm sei es seit 15 Jahren nicht mehr gelungen, eine seiner Feldstudien im Topblatt Journal of Personality and Social Psychology zu veröffentlichen – obwohl er dort Mitherausgeber war und keine Mühe hatte, im selben Journal seine Laborstudien zu veröffentlichen. Doch die aussagekräftigen Feldstudien scheitern daran, dass psychologische Gutachter heute nicht nur wissen wollen, welche Verkaufs- oder Verhaltenstechniken funktionieren, sondern auch, was in den Leuten dabei vorgeht. Das aber verraten weder die Autokäufer noch die Leute, die Müll in die Gegend werfen.

 

Dabei will Cialdini vor allem zeigen, wie man Menschen zum Energiesparen oder zu einem korrekten Umgang mit ihrem Müll bewegt. Wenn das mit solchen Experimenten gelinge, »müssen die Ergebnisse nicht dekodiert, interpretiert oder extrapoliert werden, die Relevanz ist klar«, schreibt Cialdini zum Abschied. Seinen Kollegen, die so sehr Wert auf umfassend gedeutete, aber letztlich oft wertlose Studien legen, schreibt er ins Stammbuch: »Wir kommen unserer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit nicht nach.«

 

Um diesen Zustand zu ändern, müsste an vielen Stellen umgedacht werden. Fachzeitschriften sollten den Mut haben, interessante Befunde auch dann zu drucken, wenn nicht gleich eine komplette Erklärung mitgeliefert wird; Finanziers wie die Forschungsförderorganisationen müssten darauf achten, aufwendige, aber für die Allgemeinheit wichtige Projekte zu finanzieren. Und Berufungskommissionen könnten es sich zur Regel machen, wirklichkeitsnahe Experimente aus der Psychologie stärker zu würdigen als schnelle, aber wenig aussagekräftige Fragebogenstudien. Belege für diesen Trend findet Baumeister etwa im Journal of Personality and Social Psychology , der führenden Fachzeitschrift der Sozial- und Persönlichkeitspsychologie. Als Baumeister mit einigen Kollegen kürzlich diverse Nummern des Journals auswertete, zeigte sich, dass nur 20 Prozent der jüngsten Studien sich mit echtem Verhalten befassten. Vor drei Jahrzehnten waren es noch 80 Prozent.

 

Dabei waren es gerade die lebensnahen Experimente der Vergangenheit, die überraschende Erkenntnisgewinne brachten und bis heute als Marksteine der Psychologie gelten. Heute dagegen wird ein Großteil der psychologischen Forschung so geplant, dass man mit bescheidenem Aufwand schnell viele Daten sammeln kann. Das ist für viele Fragestellungen sinnvoll, für viele andere jedoch keineswegs. Ironisch kommentiert der emeritierte Hamburger Psychologie-Professor Kurt Pawlik diese Entwicklung: Früher sei die Psychologie gerne als »Seelenwissenschaft ohne Seele« verspottet worden, heute könne man sie als »Verhaltenswissenschaft ohne Verhalten« bezeichnen.

 

Fragebögen führen nicht nur beim Thema Zivilcourage in die Irre, sondern auch, wenn es um die Liebe geht. In Befragungen legen Männer meist viel Wert auf die Schönheit einer Partnerin, während Frauen Geld ausgesprochen sexy finden. Aber entscheiden sie sich tatsächlich danach? Paul Eastwick und Eli Finkel von der Northwestern University baten Singles zum Speed-Dating. Sie durften sich im Vierminutentakt mit einem Dutzend Kandidaten unterhalten. Ergebnis: Die Teilnehmer entschieden sich häufig ganz anders, als sie vorher behauptet hatten.

 

Eine Frau beispielsweise hatte sich ausdrücklich einen Mann mit guten Karriereaussichten gewünscht. Doch dann entflammte sie für einen Posaunisten, der von einem nicht eben einträglichen Engagement auf einem Kreuzfahrtschiff träumte. »Die romantischen Entwicklungen beim Speed-Dating und im Monat danach hatten wenig mit den Angaben in den Fragebögen zu tun«, sagt Finkel.

 

Weil sich mittlerweile herumgesprochen hat, wie unzuverlässig die üblichen Fragebögen sind, ist in den vergangenen Jahren der sogenannte Implizite Assoziationstest (IAT) in Mode gekommen. Er soll unter anderem in der Lage sein, Vorurteile zu entlarven, die ihren Besitzern selbst nicht bewusst sind. Ein Proband muss zum Beispiel am Computer möglichst schnell eine Taste drücken, wenn das Gesicht eines Weißen auf dem Monitor aufleuchtet, und eine andere für das eines Farbigen. Ebenso muss er auf positive Wörter (»Freude«) oder negativ besetzte (»Wut«) bestimmte Tasten pressen. Falls er besonders schnell ist, wenn dieselbe Taste für Farbige und negative Wörter zuständig ist, soll dies auf Vorurteile deuten.

 

So weit die Theorie. Doch was ist mit der Praxis? Gerade hat der IAT-Erfinder Anthony Greenwald von der University of Washington zusammengefasst, wie gut sein Test tatsächlich Verhalten vorhersagt. Das Ergebnis von 122 Studien mit zusammen 14900 Teilnehmern: In einigen heiklen Bereichen wie Rassismus schneidet der IAT etwas besser ab als das zweifelhafte Ergebnis von Befragungen – aber nur, weil die in solchen Fällen extrem unzuverlässig sind. Bei politischen Vorlieben, Drogenkonsum, sexueller Orientierung und vielem anderen ist der IAT dagegen sogar noch schlechter als die Fragebögen.

 

Doch obwohl Psychologen wissen, dass schriftlichen Angaben nicht zu trauen ist, verlassen sie sich selbst dann auf sie, wenn einiges auf dem Spiel steht. So gibt es mittlerweile etliche Programme, in denen Kinder Zivilcourage lernen sollen. Wie prüfen die Psychologen, ob die Kinder anderen hinterher eher zu Hilfe kommen? Sie fragen die Kleinen, was sie tun würden. Der Psychologie-Professor Dieter Frey von der Ludwig-Maximilians-Universität hat selbst einige Trainings mitentwickelt, räumt aber ein: »Der Zustand ist total verbesserungswürdig.«

 

Eigentlich waren die unnützen Befragungen das Ergebnis eines Versuchs, die Forschung besser zu machen. Angesehene Fachzeitschriften veröffentlichen heute meist nur noch Aufsätze, in denen gleich mehrere Studien zu einem Phänomen beschrieben werden, um es so möglichst genau einzukreisen. Diese Anforderung aber hat zur Folge, dass viele Forscher auf Methoden zurückgreifen, die schnell viele Daten generieren – Fragebögen, die schnell verteilt sind, oder eben den IAT, der im Internet praktisch vollautomatisch läuft. Wollten dagegen die Göttinger Forscher um Stefan Schulz-Hardt ihr Zivilcourage-Experiment in immer neuen Varianten praktisch durchführen, würden sie Jahre brauchen. Das ist »eigentlich unverantwortlich«, sagt Schulz-Hardt. Im Kampf um Stellen bekämen seine Nachwuchswissenschaftler im Vergleich mit den Fragebogen-Spezialisten auf diese Weise niemals genug Publikationen zusammen.

 

Psychologen, die nicht nur im Labor, sondern im wirklichen Leben Experimente veranstalten, haben es besonders schwer. Der berühmteste von ihnen ist Robert Cialdini von der Arizona State University. Er hat als Verkäufer in einem Autohaus systematisch verschiedene Verkaufstricks getestet. In einem anderen Versuch haben seine Mitarbeiter Abfall in der Gegend verteilt, um herauszufinden, wann Menschen dies nachmachen. Auf diese Weise hat Cialdini zahlreiche Erkenntnisse dazu geliefert, wie sich Menschen im wirklichen Leben verhalten, etwa in puncto Umweltschutz.

 

Doch als er jetzt mit 64 Jahren vorzeitig seinen Lehrstuhl räumte, klagte er bitter über die oft kontraproduktiven Anforderungen seiner Zunft. Ihm sei es seit 15 Jahren nicht mehr gelungen, eine seiner Feldstudien im Topblatt Journal of Personality and Social Psychology zu veröffentlichen – obwohl er dort Mitherausgeber war und keine Mühe hatte, im selben Journal seine Laborstudien zu veröffentlichen. Doch die aussagekräftigen Feldstudien scheitern daran, dass psychologische Gutachter heute nicht nur wissen wollen, welche Verkaufs- oder Verhaltenstechniken funktionieren, sondern auch, was in den Leuten dabei vorgeht. Das aber verraten weder die Autokäufer noch die Leute, die Müll in die Gegend werfen.

 

Dabei will Cialdini vor allem zeigen, wie man Menschen zum Energiesparen oder zu einem korrekten Umgang mit ihrem Müll bewegt. Wenn das mit solchen Experimenten gelinge, »müssen die Ergebnisse nicht dekodiert, interpretiert oder extrapoliert werden, die Relevanz ist klar«, schreibt Cialdini zum Abschied. Seinen Kollegen, die so sehr Wert auf umfassend gedeutete, aber letztlich oft wertlose Studien legen, schreibt er ins Stammbuch: »Wir kommen unserer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit nicht nach.«

 

Um diesen Zustand zu ändern, müsste an vielen Stellen umgedacht werden. Fachzeitschriften sollten den Mut haben, interessante Befunde auch dann zu drucken, wenn nicht gleich eine komplette Erklärung mitgeliefert wird; Finanziers wie die Forschungsförderorganisationen müssten darauf achten, aufwendige, aber für die Allgemeinheit wichtige Projekte zu finanzieren. Und Berufungskommissionen könnten es sich zur Regel machen, wirklichkeitsnahe Experimente aus der Psychologie stärker zu würdigen als schnelle, aber wenig aussagekräftige Fragebogenstudien. Belege für diesen Trend findet Baumeister etwa im Journal of Personality and Social Psychology , der führenden Fachzeitschrift der Sozial- und Persönlichkeitspsychologie. Als Baumeister mit einigen Kollegen kürzlich diverse Nummern des Journals auswertete, zeigte sich, dass nur 20 Prozent der jüngsten Studien sich mit echtem Verhalten befassten. Vor drei Jahrzehnten waren es noch 80 Prozent.

 

Dabei waren es gerade die lebensnahen Experimente der Vergangenheit, die überraschende Erkenntnisgewinne brachten und bis heute als Marksteine der Psychologie gelten. Heute dagegen wird ein Großteil der psychologischen Forschung so geplant, dass man mit bescheidenem Aufwand schnell viele Daten sammeln kann. Das ist für viele Fragestellungen sinnvoll, für viele andere jedoch keineswegs. Ironisch kommentiert der emeritierte Hamburger Psychologie-Professor Kurt Pawlik diese Entwicklung: Früher sei die Psychologie gerne als »Seelenwissenschaft ohne Seele« verspottet worden, heute könne man sie als »Verhaltenswissenschaft ohne Verhalten« bezeichnen.

 

Fragebögen führen nicht nur beim Thema Zivilcourage in die Irre, sondern auch, wenn es um die Liebe geht. In Befragungen legen Männer meist viel Wert auf die Schönheit einer Partnerin, während Frauen Geld ausgesprochen sexy finden. Aber entscheiden sie sich tatsächlich danach? Paul Eastwick und Eli Finkel von der Northwestern University baten Singles zum Speed-Dating. Sie durften sich im Vierminutentakt mit einem Dutzend Kandidaten unterhalten. Ergebnis: Die Teilnehmer entschieden sich häufig ganz anders, als sie vorher behauptet hatten.

 

Eine Frau beispielsweise hatte sich ausdrücklich einen Mann mit guten Karriereaussichten gewünscht. Doch dann entflammte sie für einen Posaunisten, der von einem nicht eben einträglichen Engagement auf einem Kreuzfahrtschiff träumte. »Die romantischen Entwicklungen beim Speed-Dating und im Monat danach hatten wenig mit den Angaben in den Fragebögen zu tun«, sagt Finkel.

 

Weil sich mittlerweile herumgesprochen hat, wie unzuverlässig die üblichen Fragebögen sind, ist in den vergangenen Jahren der sogenannte Implizite Assoziationstest (IAT) in Mode gekommen. Er soll unter anderem in der Lage sein, Vorurteile zu entlarven, die ihren Besitzern selbst nicht bewusst sind. Ein Proband muss zum Beispiel am Computer möglichst schnell eine Taste drücken, wenn das Gesicht eines Weißen auf dem Monitor aufleuchtet, und eine andere für das eines Farbigen. Ebenso muss er auf positive Wörter (»Freude«) oder negativ besetzte (»Wut«) bestimmte Tasten pressen. Falls er besonders schnell ist, wenn dieselbe Taste für Farbige und negative Wörter zuständig ist, soll dies auf Vorurteile deuten.

 

So weit die Theorie. Doch was ist mit der Praxis? Gerade hat der IAT-Erfinder Anthony Greenwald von der University of Washington zusammengefasst, wie gut sein Test tatsächlich Verhalten vorhersagt. Das Ergebnis von 122 Studien mit zusammen 14900 Teilnehmern: In einigen heiklen Bereichen wie Rassismus schneidet der IAT etwas besser ab als das zweifelhafte Ergebnis von Befragungen – aber nur, weil die in solchen Fällen extrem unzuverlässig sind. Bei politischen Vorlieben, Drogenkonsum, sexueller Orientierung und vielem anderen ist der IAT dagegen sogar noch schlechter als die Fragebögen.

 

Doch obwohl Psychologen wissen, dass schriftlichen Angaben nicht zu trauen ist, verlassen sie sich selbst dann auf sie, wenn einiges auf dem Spiel steht. So gibt es mittlerweile etliche Programme, in denen Kinder Zivilcourage lernen sollen. Wie prüfen die Psychologen, ob die Kinder anderen hinterher eher zu Hilfe kommen? Sie fragen die Kleinen, was sie tun würden. Der Psychologie-Professor Dieter Frey von der Ludwig-Maximilians-Universität hat selbst einige Trainings mitentwickelt, räumt aber ein: »Der Zustand ist total verbesserungswürdig.«

 

Eigentlich waren die unnützen Befragungen das Ergebnis eines Versuchs, die Forschung besser zu machen. Angesehene Fachzeitschriften veröffentlichen heute meist nur noch Aufsätze, in denen gleich mehrere Studien zu einem Phänomen beschrieben werden, um es so möglichst genau einzukreisen. Diese Anforderung aber hat zur Folge, dass viele Forscher auf Methoden zurückgreifen, die schnell viele Daten generieren – Fragebögen, die schnell verteilt sind, oder eben den IAT, der im Internet praktisch vollautomatisch läuft. Wollten dagegen die Göttinger Forscher um Stefan Schulz-Hardt ihr Zivilcourage-Experiment in immer neuen Varianten praktisch durchführen, würden sie Jahre brauchen. Das ist »eigentlich unverantwortlich«, sagt Schulz-Hardt. Im Kampf um Stellen bekämen seine Nachwuchswissenschaftler im Vergleich mit den Fragebogen-Spezialisten auf diese Weise niemals genug Publikationen zusammen.

 

Psychologen, die nicht nur im Labor, sondern im wirklichen Leben Experimente veranstalten, haben es besonders schwer. Der berühmteste von ihnen ist Robert Cialdini von der Arizona State University. Er hat als Verkäufer in einem Autohaus systematisch verschiedene Verkaufstricks getestet. In einem anderen Versuch haben seine Mitarbeiter Abfall in der Gegend verteilt, um herauszufinden, wann Menschen dies nachmachen. Auf diese Weise hat Cialdini zahlreiche Erkenntnisse dazu geliefert, wie sich Menschen im wirklichen Leben verhalten, etwa in puncto Umweltschutz.

 

Doch als er jetzt mit 64 Jahren vorzeitig seinen Lehrstuhl räumte, klagte er bitter über die oft kontraproduktiven Anforderungen seiner Zunft. Ihm sei es seit 15 Jahren nicht mehr gelungen, eine seiner Feldstudien im Topblatt Journal of Personality and Social Psychology zu veröffentlichen – obwohl er dort Mitherausgeber war und keine Mühe hatte, im selben Journal seine Laborstudien zu veröffentlichen. Doch die aussagekräftigen Feldstudien scheitern daran, dass psychologische Gutachter heute nicht nur wissen wollen, welche Verkaufs- oder Verhaltenstechniken funktionieren, sondern auch, was in den Leuten dabei vorgeht. Das aber verraten weder die Autokäufer noch die Leute, die Müll in die Gegend werfen.

 

Dabei will Cialdini vor allem zeigen, wie man Menschen zum Energiesparen oder zu einem korrekten Umgang mit ihrem Müll bewegt. Wenn das mit solchen Experimenten gelinge, »müssen die Ergebnisse nicht dekodiert, interpretiert oder extrapoliert werden, die Relevanz ist klar«, schreibt Cialdini zum Abschied. Seinen Kollegen, die so sehr Wert auf umfassend gedeutete, aber letztlich oft wertlose Studien legen, schreibt er ins Stammbuch: »Wir kommen unserer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit nicht nach.«

 

Um diesen Zustand zu ändern, müsste an vielen Stellen umgedacht werden. Fachzeitschriften sollten den Mut haben, interessante Befunde auch dann zu drucken, wenn nicht gleich eine komplette Erklärung mitgeliefert wird; Finanziers wie die Forschungsförderorganisationen müssten darauf achten, aufwendige, aber für die Allgemeinheit wichtige Projekte zu finanzieren. Und Berufungskommissionen könnten es sich zur Regel machen, wirklichkeitsnahe Experimente aus der Psychologie stärker zu würdigen als schnelle, aber wenig aussagekräftige Fragebogenstudien.

 

Sonst droht ein Fach in die Belanglosigkeit abzurutschen, das für die Erklärung menschlichen Verhaltens eigentlich zentral ist. Denn noch immer werde zu wenig erforscht, kritisiert Roy Baumeister, wie wir wirklich »flirten, vermasseln, prahlen, versagen, einlenken, verkaufen, beharren, bitten, tricksen und all das andere«. Beschwörend setzt Baumeister hinzu: »Kann die Psychologie nicht Wege finden, diese Verhaltensweisen zu beobachten und zu erklären, wenigstens hin und wieder?«

 

Berühmte und lebensnahe Experimente

 

Bibb Latané und John Darley

 

Als 1964 in New York eine Frau vor den Augen von 38 Anwohnern ermordet wurde, ohne dass jemand die Polizei rief, wurde die Schuld der Apathie der Großstadtbewohner zugeschrieben. Die Sozialpsychologen Bibb Latané und John Darley vermuteten dagegen, dass gerade die große Zahl der Zeugen dem Opfer zum Verhängnis geworden war. Zum Beweis baten sie Studenten einzeln in einen Raum in einem langen Flur. Dort hörten die Teilnehmer über eine Sprechanlage andere Studierende von ihren Schwierigkeiten an der Uni berichten. Plötzlich schien einer der Sprecher einen epileptischen Anfall zu erleiden. Er stammelte »Hilfe«, »Ich sterbe« und gab Erstickungslaute von sich. Den Zuhörern zitterten die Hände. Wähnten die Probanden sich allein mit dem angeblichen Kranken, eilten ihm 85 Prozent zu Hilfe. Doch nur jeder Dritte stürzte binnen einer Minute los, sofern er glaubte, dass noch vier andere zuhörten.

 

Stanley Milgram

 

Der Psychologe Stanley Milgram versuchte Anfang der sechziger Jahre, den Ursachen des Holocaust auf die Spur zu kommen. Er suggerierte seinen Versuchspersonen, sie müssten die Lernfortschritte einer zweiten Testperson überwachen, die in einem Nebenraum saß. Dabei sollten sie dem vermeintlichen »Schüler« für jeden Fehler einen elektrischen Schlag versetzen und dessen Intensität nach und nach steigern. Was sie nicht wussten: Die Elektroschocks wurden nur vorgetäuscht, der »Schüler« war in Wirklichkeit ein Schauspieler. Dennoch klangen dessen Schmerzensschreie äußerst lebensecht. Wollten die »Lehrer« das Experiment abbrechen, übte ein angeblicher »Versuchsleiter« Druck aus. Das genügte, dass zwei Drittel der Probanden trotz Gewissensbissen weitermachten und am Ende sogar bereit waren, tödliche Stromstöße zu verabreichen. Dieses verstörende Resultat führte Milgram darauf zurück, dass Menschen sich von Autoritäten offensichtlich enorm beeinflussen lassen.

 

Philip Zimbardo

 

1971 richtete der Psychologe Philip Zimbardo im Keller der Universität Stanford ein künstliches Gefängnis ein. Eine zufällig ausgewählte Hälfte seiner Versuchspersonen zog dort als »Gefangene« ein, die anderen jungen Männer wurden zu »Wärtern« ernannt. Binnen weniger Tage fingen die Wärter an, die Gefangenen zu misshandeln. Viele Häftlinge brachen psychisch zusammen. Nach sechs Tagen brach Zimbardo das auf zwei Wochen geplante Experiment ab – aber erst, nachdem seine Freundin massiv protestierte hatte. Der Psychologe nahm das Ergebnis als Beleg dafür, wie sehr die situativen Umstände entscheiden, was ein Mensch tut.

 


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