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Lecker oder eklig – Warum uns manches schmeckt und anderes nicht
von Jochen Paulus
(Wissen, SWR2, 20.10.2021)

 

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SWR2 Wissen

Lecker oder eklig – Warum uns manches schmeckt und anderes nicht

 

Von Jochen Paulus

 

Sendung vom: Mittwoch, 20.10.2021

Redaktion: Sonja Striegl

Regie: Alexander Schuhmacher

Produktion: SWR 2021

 

Warum schmeckt ein Wein verführerisch, wenn wir verführerische Musik hören? Weil unser Geschmackssinn manipulierbar ist. Er ist aber auch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Organe.

 

 

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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

 

 

 

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MANUSKRIPT

 

Sprecherin:

Was wir gerne essen oder aber verabscheuen, ist höchst subjektiv. Das erfährt der Soziologie-Professor Christian Stegbauer, wenn er mit seinen Studierenden spricht.

 

O-Ton Christian Stegbauer:

Wenn ich dann sage, was meine Kindheits-Lieblingsspeise war, dann fallen die vom Stuhl, weil es schon so einen skurrilen Namen hat. Ja, „Blutkuchen“. Das war das, und das gab's eben auch nur einmal im Jahr, wenn man Glück hatte, eher seltener, nämlich am Schlachttag, weil man dazu frisches Schweineblut brauchte.

 

Musik

 

Ansage:

Lecker oder eklig – Warum uns manches schmeckt und anderes nicht. Von Jochen Paulus.

 

O-Ton Christian Stegbauer:

Diese Erinnerung ist eigentlich auch schon an die fünfzig Jahre alt, aber ich habe diesen Geschmack, in der Vorstellung kommt das immer wieder. Und ich merke jetzt, wenn ich es erzähle, dass auch ein gewisser Speichelfluss dabei beginnt loszugehen.

 

Musik

 

Umfrage Lieblingsspeisen der Kindheit:

Linsen und Spätzle, ich habe einfach eine Erinnerung an das Gericht, dass es ein

Herzensgericht war // Von meiner Mutter die Geheimtopf-Suppen, mit Erbsen oder

Bohne, das ist völlig egal // Diese Kindheitserinnerung, deshalb mag ich bis heute Milchreis und mache ihn mit Konfitüre, wie meine Mama // Das kennt keiner, „Kratzete“ heißt das, das ist so ähnlich wie Kaiserschmarrn, das macht meine Oma immer, von ihr schmeckt´s einfach am besten // Aus meiner Jugend noch

Pfannkuchen, ja // Meine Oma hat immer selbstgemachte Pommes gemacht, die

Kartoffeln selbstgeschnitten und mit Fett im Topf, das war ein Highlight // Rotkraut. Ich habe den Geschmack noch im Mund, wie meine Mutter das Rotkraut gemacht hat, das war einfach: Wie sie´s gemacht hat, mit Schweineschmalz // Brotsuppe. Allein schon der Anblick war nicht angenehm. Und der Geschmack schon zweimal nicht.

 

Sprecherin:

Wo wir leben und wo und wie wir aufgewachsen sind, beeinflusst, was uns schmeckt.

 

O-Ton Christian Stegbauer:

Das ist in Frankfurt, Mainz, Handkäse, das ist also sicherlich auch was, was gewöhnungsbedürftig ist. Sie kommen aus Schwabenland, dort gibt es Kutteln zum

Beispiel, saure Kutteln, in Süddeutschland isst man eher Innereien, in Norddeutschland weniger Innereien. Also so könnte man sagen, das markiert eine Zugehörigkeit, man ist damit aufgewachsen.

 

Musik: 

„God save the Queen“ 

 

Sprecherin:

Die Engländer waren lange berüchtigt für ihre Liebe zu Essen, vor dem es dem Rest der Welt grauste: „Fettiger Fisch mit Chips, Schweinefleischpastete und SpülwasserKaffee“, wie sich der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman einmal in einer Kolumne ekelte. Er hatte auch eine Erklärung für den fragwürdigen Geschmack: Als auf der Insel die Industrialisierung begann und die Städte rasch wuchsen, mussten sie mit viel primitiv konserviertem Essen versorgt werden. Die Engländer gewöhnten sich über mehrere Generationen daran, und als sie schließlich besseres Essen hätten bekommen können, wollten sie es gar nicht mehr. Erst in den vergangenen Jahrzehnten änderte sich das, etwa durch Zuwanderer. Mit dem Brexit könnte das

Essen jedoch wieder schlechter werden, befürchten Forschende im Fachblatt „Nature

Food“: Je nachdem, wie die neuen Handelsverträge ausfallen, könnten Obst und Gemüse, die zu mehr als drei Vierteln aus dem Ausland kommen, rarer und teurer werden, dafür aber mehr Junk-Food ins Land strömen. (i)

 

Aber wie können wir überhaupt etwas schmecken? Die Grundlagen der Geschmackswahrnehmung sind keineswegs so schlicht und altbekannt, wie viele vielleicht glauben. Klar, es gibt mindestens fünf Grundgeschmacksarten – süß, sauer, salzig, bitter und umami. Wir können sie mit unserer Zunge schmecken. Aber was über deren Verteilung schon in Kinderbüchern steht, gerne mit einem Bildchen mit bunten Zonen, stimme nicht, sagt die Biologin Jessica Freiherr. Sie ist Professorin für Neurowissenschaften der sensorischen Wahrnehmung an der Universität Erlangen.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Das ist ein großes Problem, das wird in ganz vielen Literaturstellen auch in medizinischen Fachbüchern falsch dargestellt. Und zwar ist da immer die Abbildung so, dass die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge verschiedenen Lokalisationen zugeordnet sind, das heißt, es wird sozusagen behauptet, süß schmeckt man eher an der Zungenspitze und bitter eher am Zungengrund, also ganz hinten, bevor man etwas hinunterschluckt. Das ist falsch. In ungefähr jeder meiner Vorlesungen versuche ich, das den Studenten mitzugeben.

 

Sprecherin:

In Wirklichkeit verteilen sich die Rezeptoren nahezu gleichmäßig. Aber noch einmal: Warum können wir gerade süß und salzig, sauer und bitter und umami schmecken? Genau diese Fähigkeiten haben sich in der Evolution herausgebildet, weil sie wichtig sind, um zu überleben. Sie sind die Antwort auf das, was der Geschmackspsychologe Paul Rozin das „Dilemma des Allesfressers“ genannt hat.

Im Unterschied zu vielen Tierarten kommt für uns erst einmal alles als Nahrung in Frage, was kreucht, fleucht und wächst. Aber nur manches ist nahrhaft, anderes jedoch giftig. Der Geschmack hilft bei der Unterscheidung. Wir brauchen Salz, deshalb mögen wir es. Wir brauchen Kohlenhydrate, deshalb schmeckt uns Süßes so gut, denn es enthält nahrhaften Zucker. Zudem warnt der Geschmackssinn davor, das Falsche zu essen. Wir mögen beispielsweise nichts, was stark sauer schmeckt. Denn Säuren sind gefährlich. Auch Bitteres spucken wir gleich wieder aus oder würden es zumindest gerne tun.  

 

Aber warum schmeckt Giftiges so oft bitter? Sind giftige Stoffe etwa chemisch einheitlich, so dass sie wie identische Schlüssel in das Schloss der

Geschmacksrezeptoren passen? Natürlich nicht. Wir besitzen etwa zwei Dutzend verschiedene Bitterrezeptoren. Manche reagieren nur auf eine einzige bittere Substanz, andere auf viele. Wenn sie anschlagen, schmeckt das, was wir gerade im Mund haben, bitter, egal was es ist. Feinschmeckerei wäre auch fehl am Platz. Wir müssen nicht verschiedene Geschmacksrichtungen von Giften unterscheiden können, sondern sie nur alle schleunigst aus dem Mund befördern.

 

Praktisch wäre auch, wenn wir die lebensnotwendigen Eiweiße am Geschmack erkennen könnten. Doch sie sind zu groß für die Rezeptoren auf der Zunge. Aber immerhin eine der Aminosäuren, aus denen Eiweiße bestehen, verwandelt sich leicht in einen Stoff, den wir schmecken können: Glutamat, das Salz der Glutaminsäure. Der Geschmack, den es erzeugt, wird mit dem japanischen Wort „umami“ bezeichnet. Wir müssen kein Glutamat kaufen, um ihn zu erzeugen. Der Mainzer Genussforscher und Hobbykoch Thomas Vilgis:

 

O-Ton Thomas Vilgis:

Glutaminsäure macht eben diesen Umami-Geschmack. Und deswegen ist ein guter Sensor für uns. Immer dort, wo Glutaminsäure ist, ist auch noch Protein. 

 

Sprecherin:

Im Hauptberuf ist Thomas Vilgis Professor für Theoretische Physik am Max-PlanckInstitut für Polymerforschung in Mainz, Spezialgebiet „Weiche Materie

Lebensmittelwissenschaft". Über 300 wissenschaftliche Publikationen hat er bislang mitverfasst, außerdem mehr als 20 populäre Bücher von der Wissenschaft des Kochens mit vielen Rezepten. Seine Erkenntnisse stellt er als Experte in der SWR2Sendung „Am Samstagnachmittag“ vor.

 

Er hat ein Glas mit einer roten Flüssigkeit mitgebracht. Rote Bete, die er einige Tage eingelegt, also fermentiert hat. So beweist er: Man muss kein Glutamat kaufen, um den Geschmack von umami zu erhalten.

 

O-Ton Thomas Vilgis:

Und wenn Sie da reinriechen (Einatmen durch die Nase), dann riecht man noch den Hauch einer roten Bete, wenn man das mal probiert, (schmeckt hörbar) das ist sauer. Das ist gleichzeitig extrem umami-haltig, das heißt, hier ist offensichtlich was fermentiert.

 

Sprecherin:

Wahrscheinlich wird umami nicht der letzte Geschmack sein, der in den Rang einer Grundgeschmacksrichtung erhoben wird, weil sich Rezeptoren für ihn finden lassen.

Die Kalziumrezeptoren beispielsweise sorgen für ein Gefühl, das Thomas Vilgis mit „Mundfülle“ beschreibt. Wir kennen sie von einer stundenlang gekochten Hühnerbrühe.

 

O-Ton Thomas Vilgis:

Wenn wir so eine Hühnerbrühe in den Mund nehmen, dann geht hier so richtig die

Post ab. Man hat eben das Gefühl, der ganze Mund ist ausgekleidet, obwohl das Wasser ist. Und das sind solche Bruchstücke und solche chemischen Verbindungen, die aus den Proteinen entstehen, die eben für diese Mundfülle erzeugen. Und diese Mundfülle, das hat weder was mit Geschmack zu tun, das ist auch kein Aroma, sondern sind diese speziellen chemischen Verbindungen, die triggern ganz spezielle Rezeptoren, nämlich so kalziumsensitive Rezeptoren, die wir auf der Zunge haben und die dieses Gefühl auslösen.

 

Sprecherin:

Was das Schmecken komplex macht: Unsere Zunge nimmt Geschmack nicht nur über Rezeptoren wahr. Beteiligt ist auch einer der sogenannten Hirnnerven, der Nervus trigeminus.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Der hat drei verschiedene Äste, die durchs komplette Gesicht und damit auch durch

Mund, Nase und Rachen ziehen und über diesen Nerv empfinden wir alles, was im

Mund oder in der Nase brennt, kribbelt, prickelt, scharf ist, kalt ist, warm ist, diese Eindrücke gehen über diesen über diesen Trigeminal-Nerv und Beispiele dafür sind dieses Heiße und Warme und Scharfe der Chili. Aber wenn Sie an einen Kaugummi

denken, Eukalyptusbonbon. Das wäre sozusagen das Gegenteil. Die Kältewahrnehmung.

 

Sprecherin:

Und dann ist da noch die Oberfläche der Nahrung, die Textur. Dass wir Chips lieben, liegt auch daran, dass sie knackig sind.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Textur macht ganz viel mit uns. Wir wissen, dass es ganz viele Texturparameter gibt, also da kann ich anfangen mit schleimig, aber auch knackig, knusprig.

 

Sprecherin:

Eigenschaften wie „schleimig“ sind zwar kein Geschmack, aber im Alltag unterscheiden wir da nicht so. Deshalb interessiert sich Geschmacksforscherin Jessica Freiherr auch dafür.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Vor allen Dingen im Hinblick auf Kinder. Da ist sicherlich auch die Frage, ist es die Textur, warum Kinder dazu geneigt sind, verschiedene Nahrungsmittel abzulehnen, oder ist es tatsächlich der Geschmack? Also diese schleimige Pilzsuppe, schmeckt die wirklich nicht, oder wird die abgelehnt, weil sie so schleimig ist? Ich plädiere für zweites, einfach wirklich aus eigener Erfahrung.

 

Sprecherin:

Die Geschmackswahrnehmung hängt neben der Zunge noch von anderen Organen ab. Im Darm beispielsweise gibt es Rezeptoren für Fett und für Kohlenhydrate. Wir merken zwar nicht, wenn Verspeistes sie aktiviert, und doch verändert ihr Wirken unser Geschmacksempfinden. Denn unser Gehirn lernt: Wenn wir etwas Nahrhaftes gegessen haben, bringt das Gehirn die Nachricht aus dem Darm mit der Speise in Verbindung und sie schmeckt uns fortan besser. Den Geschmack von Schokolade etwa mögen wir von Natur aus nicht besonders, aber wir lernen schnell, dass Fett und Kohlenhydrate in ihr stecken. Allerdings verbindet unser Gehirn die positiven Botschaften aus dem Darm nicht mit dem von der Zunge gemeldeten Geschmack, sondern mit dem Teil der Geschmacksempfindung, die die Nase beisteuert. Denn die Zunge ist ja nur für Grundgeschmacksrichtungen wie süß und bitter zuständig, sagt Jessica Freiherr.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Alles andere geht über die Nase, und zwar über die Geruchsrezeptoren in der Nase.

Das heißt, wenn viele Leute über Schmecken reden, meinen sie eigentlich Riechen. Wenn Sie Ihren Kaffee trinken und dabei die Nase zuhalten, dann schmeckt der erstmal süß und bitter, wenn sie dann die Nase aufmachen, dann kommt das Kaffeearoma. Das heißt, dieses Kaffeearoma kommt über die Nase.

 

Sprecherin:

Wichtig für den Geschmack sind nicht etwa die Düfte, die wir durch die Nasenlöcher aufnehmen. Entscheidend sind die Geruchsmoleküle, die über den Gaumen von hinten in die Nase gelangen. An ihnen macht das Gehirn auch schlechte Erfahrungen fest. Ein einziges Erlebnis kann reichen.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Es ist bei manchen nach Genuss von zu viel Alkohol, dass einem übel wird und Erbrechen erfolgt. Dann ist es aber genau der Alkohol, der dann über Jahrzehnte nicht mehr getrunken wird. Das heißt, wir haben hier eine enge Kopplung aus diesem negativen Erleben, was ja auch körperliche Folgen hat. Also ich hab da ja ein richtiges Problem mit dieser Übelkeit und vielleicht mit dem Erbrechen. Das ist ganz tief verankert und bleibt auch über Jahre erhalten.

 

Umfrage:

Es klingt vielleicht borniert, aber ich mag keine Austern mehr. Jedes Mal wird´s mir schlecht jetzt. // Rote Beete. Ich habe früher mit meinem Vater immer gern rote Beete gegessen. Aber irgendwie ist es mir irgendwann mal von der roten Beete so schlecht geworden, und wenn ich die jetzt sehe, dann ekelt es mich. Und meine Schwägerin hat mich unlängst überredet, Rote-Beete-Suppe zu probieren. Aber es war so eklig. // Als Kind hab ich immer den Fisch in der Tomatensoße gegessen. Das war für mich als Kind ganz toll. Heute können Sie es mir hinstellen, ich lehne es ab, ich kann es nicht mehr essen. // So was wie Eisbein. Bei solchen Sachen schüttelt es mich.

 

Sprecherin:

Solche Aversionen dürften zu verschmerzen sein. Der Effekt tritt aber auch bei Krebskranken auf, denen während einer Bestrahlung oder Chemotherapie übel wird.

Als Patientinnen und Patienten in einer Studie vorher der Behandlung Eis mit einem neuen Geschmack bekamen, mochten die meisten diese Sorte hinterher nicht mehr.

(ii) 

O-Tobn Jessica Freiherr:

Das ist halt schon ein Problem. Da muss man aufpassen, dass man nicht sein Lieblingsessen direkt vor der Chemotherapie isst, weil dann könnte das halt wirklich falsch verknüpft werden.

 

Sprecherin:

Etwa die Hälfte der Behandelten entwickelte solche Aversionen. Meistens verschwinden sie nach einiger Zeit wieder, aber im Extremfall leidet die Gesundheit der Betroffenen, weil sie sich deshalb schlechter ernähren. (iii). Während der CoronaPandemie bekamen viele Patienten ein ganz anderes Problem mit dem Geschmack. Sie verloren ihn für einige Zeit. Wie diese Frau, die gern anonym bleiben möchte:

 

O-Ton Betroffene:

Als ich quasi wieder auf dem Weg der Besserung war und die üblichen Symptome alle verschwunden waren, kam im Grunde genommen sehr überraschend in einem relativ kurzen Zeitraum, innerhalb von ein bis drei Tagen waren dann plötzlich Geschmacks- und Geruchsinn weg. Das ist sehr seltsam, es ist, als würde man in einem Wattebausch sitzen. Man will etwas essen, man schmeckt es nicht mehr.

 

Sprecherin:

Diese irritierende Erfahrung erforscht Professorin Jessica Freiherr. Die Erlanger Neurowissenschaftlerin gehört zu einem weltweiten Verbund von Forschenden, die einen Fragebogen entwickelt und ins Netz gestellt haben.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Also es ist eine relativ große Datenbasis. Das sind zum Februar 2021 50.000 erfolgreich beantwortete Fragebögen drin gewesen. Und wir sehen da, dass während der Infektion sowohl der Geruchssinn als auch der Geschmackssinn extrem beeinflusst sind, also bis zu 70, 80 Prozent Verminderung von Geruch und Geschmack.

 

Sprecherin:

Glücklicherweise sind die Ausfälle meist nicht von Dauer. Wer nach einiger Zeit immer noch Probleme hat, kann es mit einem Geschmackstraining versuchen. Das geht ganz einfach.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Man hat Zucker daheim, man hat Salz daheim, man hat vielleicht Zitronensaft daheim, fürs Bitter wird schon bisschen schwerer, fürs Bitter könnte man vielleicht einen Kaffee nehmen, einen ungesüßten Kaffee, dann ist der auch bitter. Und damit hätte man das schon alles abgedeckt. Und das wird tatsächlich empfohlen, dass wenn man merkt, dass das halt beeinträchtigt ist und es auch längere Zeit wegbleibt, dann in so eine Trainingsphase zu gehen und sich mehrmals täglich konzentriert hinzusetzen.

 

Sprecherin:

Auf diese Weise lassen sich die Geschmackssinne meist wieder aktivieren. Aber wie genau können wir Feinheiten schmecken?

 

Musik

 

Umfrage:

Ich komme aus Hamburg, dort sitzt die Ratsherren-Brauerei, das würd ich schon rausschmecken. Lüneburg ist auch in der Ecke, Lüneburger Pils, das würd ich auch rausschmecken. So die Brauereien aus dem Norden, das schmeck ich dann schon, ja. // Ich hab ein Lieblingsbier, aber ich wüsste nicht, warum das anders schmeckt als anderen. // Das unterscheidet sich ja schon, etwas bitterer oder süßer oder, also ich glaube, so richtige Cracks, die können das schon, das wohl ähnlich wie beim Wein. // Jede Quelle hat einen anderen Geschmack und wenn man so viel Wasser trinkt, sensibilisiert man sich dafür, es schmeckt anders. Man kann, wenn man es regelmäßig trinkt, auch dafür einen Feingeschmack entwickeln. // Ja, bei Plastikflaschen zum Beispiel, da merk ich einen Unterschied.

 

Sprecherin:

Liebhaberinnen und Liebhaber bestimmter Biersorten oder Mineralwasser-Marken überschätzen ihre Fähigkeiten jedoch oft, sagt die Psychologin Simone Dohle von der Universität zu Köln.

 

O-Ton Simone Dohle:

Es gibt schon auch sehr alte Studien dazu, wo man Menschen befragt hat, zu ihren präferierten Marken oder präferierten Biersorten. Und da zeigt sich immer der Effekt, dass, obwohl Menschen der Meinung sind, dass sie auf jeden Fall zum Beispiel ihre präferierte Biersorte aus allen Biersorten herausschmecken können, dass sie das in

Wahrheit gar nicht können. Also wenn man Blindverkostungen macht, dann zeigen Studien, dass selbst sehr eingefleischte Biertrinker ihre Marke gar nicht rausschmecken können.

 

Sprecherin:

Tatsächlich glauben wir oft, dass uns etwas besonders gut schmeckt, doch im Blindtest entpuppt sich das als Illusion. Die Verbraucherinnen und Verbraucher kaufen zum Beispiel jährlich zwei Milliarden Liter stilles Mineralwasser, obwohl es gar nicht besser schmeckt als Leitungswasser. Das ergab ein Blindtest der Universität Konstanz. Weintrinker sind auch nicht fähiger.

 

O-Ton Simone Dohle:

Da wurde mal eine Studie durchgeführt, wo bei Weinkennern dann Weißwein rot eingefärbt wurde. Und dann wurden diese Weinkenner gefragt und es wurden halt verschiedene Listen zur Verfügung gestellt, um diesen Wein zu beschreiben. Und es stellte sich heraus, dass sogar die Weinkenner diesen eingefärbten Weißwein mit Merkmalen beschreiben, die eigentlich für Rotwein sehr charakteristisch sind.

 

Sprecherin:

Der Lebensmittelhandel nutzt unsere Geschmacksillusionen gern aus.

 

O-Ton Simone Dohle:

Zum Beispiel ist es so, dass Margarine häufig etwas rötlicher eingefärbt wird. Wenn sie nicht eingefärbt würde, hätte sie mehr so einen weißlichen Farbton. Und das hat den Hintergrund, dass dieser etwas rötliche Farbeindruck dazu führt, dass Margarine ähnlich wie Butter als cremiger wahrgenommen wird. Eben weil man diesen Vergleich mit Butter dann eher herstellt und Margarine wird eben, wenn es nicht eingefärbt wird, eher so als ölig wahrgenommen. Und auch das ist ein Beispiel dafür, wie sehr eigentlich unsere Erwartungen bei der Geschmackswahrnehmung eine Rolle spielen.

 

Musik: 

Tschaikowsky: „Blumenwalzer“ 

 

Sprecherin:

Etwas subtiler machen es viele Restaurants. Ihre Hintergrundmusik wirkt sich auch auf unsere Geschmackswahrnehmung aus. In einer Studie einer britischen

Universität bekamen Studierende ein Glas Wein angeboten, während der

Blumenwalzer von Tschaikowsky erklang. Diese Musik gilt als subtil und raffiniert – und so kam den Probanden der Wein vor. (iv)

 

Musik: 

Carl Orff: O fortuna 

 

Sprecherin:

Ertönte dagegen mächtige, schwere Musik von Carl Orff, ging plötzlich auch der Wein in diese Richtung. Aber nicht immer ist das Geschmackserleben subjektiv und manipulierbar.

 

Atmo:

Öl siedet

 

Sprecherin:

Der Mainzer Physiker und Genussforscher Thomas Vilgis will heute siedendes Olivenöl in einer Pfanne aromatisieren – mit Rosinen. Die angebratenen Rosinen würde Vilgis beispielsweise zu frisch geschossenem Wild essen oder zu einer Würzsauce pürieren. Einen Salat könnten sie auch veredeln, genau wie das aromatisierte Öl.

 

O-Ton Thomas Vilgis:

Und dann haben die einen ganz anderen Geschmack, als man das von Rosinen her kennt. Die haben natürlich sehr viele Karamellaromen gebildet, sehr viele Röstaromen gebildet und insofern etwas, was man sonst normalerweise eben aus normalen gekauften Zutaten nicht bekommt. Und dieses Öl dann eben mit ein bisschen Apfelessig oder mit ein bisschen schönem Balsamico angerührt, hat man eben eine perfekte Vinaigrette, die eben auch diese Karamellaromen hier mit sich trägt.

 

Sprecherin:

Doch auch wenn Thomas Vilgis hier von seiner kreativen Köstlichkeit schwärmt, wie sie ihm schmeckt, hängt letztlich von kulturellen Prägungen ab, betont der Frankfurter Soziologen Christian Stegbauer:

 

O-Ton Christian Stegbauer:

Jeder schmeckt ja für sich allein. Und jede, jeder hat seinen persönlichen

Geschmack, wenn man so will. Man spürt es auf der Zunge. Man riecht es mit und so weiter und so fort. Aber trotzdem ist es keine allein individuelle Angelegenheit, sondern es gibt Muster, die sich in Gesellschaften und in Kulturen herausbilden.

 

Sprecherin:

Dabei prägt keineswegs einfach die Kindheit unseren Geschmack fürs Leben. Viele lassen ihre Herkunft hinter sich und leben als Erwachsene in einer anderen Welt, wo andere Regeln für das gelten, was einem schmeckt – oder schmecken sollte. Manche Spezialitäten sind da nicht wirklich jedermanns Sache, mögen sie auch teuer sein.

 

O-Ton Christian Stegbauer:

Also mir zum Beispiel schmecken Austern, aber meine Frau mag Austern nicht sogar gerne und viele meiner Freunde eigentlich auch nicht so gern. Die schmecken denen dann, wenn man sie überbackt, und dann schmecken sie eigentlich nicht mehr wirklich nach Austern.

 

Sprecherin:

Aber man „hat“ ja „Geschmack“, demonstriert ihn gerne und speist Kaviar oder stößt mit Champagner an, unabhängig davon, ob sie wirklich Freude machen.

 

O-Ton Christian Stegbauer:

Das liegt daran, dass man über solche seltenen Speisen, teuren Speisen sowas erreichen kann wie Distinktionsgewinne, also man kann den Freunden, Bekannten erzählen, dass man Trüffel gegessen hat und vielleicht nicht nur einen kleinen, sondern richtig viel. Ja, und damit erreicht man Prestige bei denen, aber eben nur, wenn die auch einen Draht dazu haben, wenn die auf einer ähnlichen Welle schwimmen.

 

Sprecherin:

Es wäre möglich, mit Begeisterung für nachhaltiges Essen einen besonderen

Geschmack zu beweisen. Wenn wir statt Schweinebraten beispielsweise geröstete Insekten schätzen würden, hätten wir eine ökologische Eiweißquelle. Jessica Freiherr hat gewürzte Grillen im tapferen Selbstversuch getestet.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Die waren irgendwie getrocknet, also die waren schon auch so ein bisschen knusprig. Und das war auch alles gut, aber trotzdem, aber es bleibt halt trotzdem so ein, also a wie es aussieht und b es ist schon auch so ein heuiger, trockener Geschmack, der irgendwie echt an die Grille erinnert, also für mich ist es nix. Aber ich denke, da muss sich halt auch einiges in den Köpfen ändern.

 

Sprecherin:

Vielleicht ist es einfacher, wenigstens dem Nachwuchs den „richtigen“ Geschmack nahezubringen? Leider besitzen Kinder eine natürliche Abneigung gegen Gemüse – auch wenn sie ständig zu hören bekommen, wie gesund es ist. Jessica Freiherr rät daher davon ab, Kindern mit Gesundheitsbotschaften zu kommen. Die wüssten dann nämlich schon, wie es schmecken wird.

 

O-Ton Jessica Freiherr:

Schon die Farbe Grün ist irgendwie schwierig belegt bei Kindern. Und das Gesunde ist halt oft grün, also Salat, Brokkoli, solche Sachen. Und wir wissen, dass bis zu achtmal der Konsum passieren muss, bevor es vielleicht akzeptiert wird. Das heißt, einfach immer wieder anbieten, wäre der Tipp.

 

Sprecherin:

Wenn Kinder aber lernen, etwas zu mögen, bleibt die Vorliebe oft lange erhalten – vielleicht ja auch, weil der Geschmack an die Kindheit erinnert. So wie der „Blutkuchen“ von Christian Stegbauer, den es nur an einem Schlachttag geben konnte, weil dazu frisches Schweineblut benötigt wird. Denkt er heute daran, läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. Anderen graust es allein bei der Vorstellung.

 

Sprecherin:

Auch von Marcel Proust ist eine solche Kindheitserinnerung überliefert.

 

Musik: 

Debussy Pelléas et Mélisande Akt III Szene 3

 

Sprecherin:

Anfang des 20. Jahrhunderts saß oder lag der asthmakranke Schriftsteller auf seinem Bett in einem abgedunkelten Zimmer, das er selten verließ. Durch das Theatrophon, ein spezielles Telefonsystem, konnte er Arien aus Pariser

Opernhäusern hören (v). Und er schrieb an dem siebenbändigen Roman „Auf der

Suche nach der verlorenen Zeit“. Der Ich-Erzähler kann sich an viele Details der Vergangenheit nicht willentlich erinnern. Doch eines Tages reicht ihm seine Mutter ein muschelförmiges Gebäck, Madeleine genannt. Als er ein in Tee eingeweichtes Stückchen isst, durchströmt ihn ein „unerhörtes Glücksgefühl“. Er braucht eine Weile, bis er den Grund erkennt.

 

Zitator:

Und mit einem Mal war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jenes kleinen

Stücks einer Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem

Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging), sobald ich ihr in ihrem Zimmer

„guten Morgen“ sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte.

 

Sprecherin:

Tatsächlich machte Proust selbst diese Erfahrung wohl nicht mit einer Madeleine, sondern mit Zwieback, so steht es im ursprünglichen Manuskript. Vielleicht war Zwieback zu schnöde für die grandiose Macht des Geschmacks, der von dem teegetränkten Krümel ausging.

 

Zitator:

Doch wenn von einer weit zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr existiert, nach dem Tod der Menschen und dem Untergang der Dinge, dann verharren als einzige, zarter, aber dauerhafter, substanzloser, beständiger und treuer der Geruch und der Geschmack, um sich wie Seelen noch lange zu erinnern, um zu warten, zu hoffen, um über den Trümmern alles übrigen auf ihrem beinahe unfassbaren Tröpfchen, ohne nachzugeben, das unermessliche Gebäude der Erinnerung zu tragen.

 

Abspann:

Musikbett mit SWR2 Wissen 

 

Sprecher:

Lecker oder eklig – Warum uns manches schmeckt und anderes nicht. Von Jochen

Paulus, Sprecherin Brigitta Assheuer, Redaktion: Sonja Striegl, Regie Alexander Schuhmacher.

 

Abbinder

 

i    F. Freund und M. Springmann, „Policy analysis indicates health-sensitive trade and subsidy

reforms are needed in the UK to avoid adverse dietary health impacts post-Brexit“, Nature Food 2, Nr. 7 (1. Juli 2021): 502–8, https://doi.org/10.1038/s43016-021-00306-9.

ii   Paul B. Jacobsen u. a., „Formation of food aversions in cancer patients receiving repeated

infusions of chemotherapy“, Behaviour Research and Therapy 31, Nr. 8 (1. November 1993): 739–48, https://doi.org/10.1016/0005-7967(93)90004-E.

iii  Jian-You Lin, Joe Arthurs, und Steve Reilly, „Conditioned taste aversions: From poisons to pain

to drugs of abuse“, Psychonomic Bulletin & Review 24, Nr. 2 (1. April 2017): 335–51, https://doi.org/10.3758/s13423-016-1092-8.

iv  Adrian C. North, „The effect of background music on the taste of wine“, British Journal of

Psychology 103, Nr. 3 (1. August 2012): 293–301, https://doi.org/10.1111/j.2044-8295.2011.02072.x.

v   Cormac Newark und Ingrid Wassenaar, „Proust and music: The anxiety of competence“,

Cambridge Opera Journal 9, Nr. 2 (1997): 163–83, https://doi.org/10.1017/S0954586700005243.

 

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