Home

Biographisches

Artikel

Buch Verhaltenstherapie
Vtcover


Journalistenpreise

Der Dodo ist tot
Verschiedene Psychotherapieformen sind unterschiedlich wirksam

von Jochen Paulus
(Gehirn und Geist 7/8 2007)

 

In „Alice im Wunderland“ liefern sich die Tiere einen verrückten Wettlauf. Jedes rennt los, wo es mag, und spurtet zu einem Ziel, das es sich spontan selbst aussucht. So ist es nicht ganz leicht, einen Sieger zu ermitteln. Schließlich sagt der Dodo: „Alle haben gewonnen und müssen Preise bekommen“.

Psychotherapeuten lieben diese Geschichte, Sie übertragen sie gern auf die Konkurrenz der vielen Therapieschulen von Psychoanalyse bis Urschrei. Warum behaupten, dass die einen besser sind als die anderen? Jeder ist doch auf seine Weise Spitze. Das kommt dem in helfenden Berufen besonders verbreiteten Harmoniebedürfnis entgegen.

Besonders praktisch ist diese Einstellung für die Funktionäre von Psychotherapeutenverbänden. So können sie einen bunten Haufen von Therapeuten, die oft völlig widersprüchliche Überzeugen hegen, hinter einer Fahne versammeln. Und wenn die Krankenkassen sich weigern, eine Therapieform zu finanzieren, weil sie wissenschaftlich nicht ausreichend überprüft ist, gibt der Therapeutenvertreter den Dodo: Alle von einem wesentlichen Teil unserer Mitglieder praktizierten Therapieformen haben sich bewährt und müssen bezahlt werden.

Die Funktionäre berufen sich dabei auf namhafte Therapieforscher, die nach großen Vergleichen behaupten, alle Therapieformen seien gleich wirksam. In der Therapieforschungsliteratur wird diese Position als Dodo-Verdikt gehandelt und der Vogel häufiger zitiert als Sigmund Freud. So verkündete Lester Luborsky von der University of Pennsylvania: „Das Dodo-Verdikt lebt und erfreut sich größtenteils bester Gesundheit“. Er hatte mit seinem Team Vergleiche verschiedener Therapieformen zusammengefasst und keinen nennenswerten Unterschiede gefunden.

„Der Dodo ist ausgestorben“, gab der nicht minder renommierte Larry Beutler von der Pacific Graduate School of Psychology zurück. In den Augen von Beutler und anderen weisen die Dodo-Wettkämpfe ähnlich ihrem literarischen Vorbild einige Merkwürdigkeiten auf. So ging es in den von Luborsky ausgewerteten Studien häufig um Depressionen. Die lassen sich tatsächlich mit vielen verschiedenen Therapien etwa gleich gut behandeln. Doch für andere Probleme, etwa Ängste und Zwänge, gilt dies nicht.

In der Praxis glaubt ohnehin kein Therapeut, dass es egal ist, wer wem wie zu helfen versucht. Denn jeder kann Geschichten von Patienten erzählen, die von mehreren Kollegen erfolgslos behandelt wurden und erst bei ihm Besserung erfuhren. Die Angst-Spezialistin Dianne Chambless von der University of Pennsylvania hielt Luborsky denn auch nicht nur methodische Probleme seiner Untersuchung vor, sondern auch ihre eigene Erfahrung: Die Verhaltenstherapeutin behandelte meist Patienten, die Therapeuten anderer Ausrichtungen nach erfolglosen Therapieversuchen zu ihr geschickt hatten – oft allerdings erst, wenn die Versicherung nicht mehr zahlte und die Ersparnisse aufgebraucht waren. Dianne Chambless konnte 70 Prozent dieser Aufgegebenen helfen.

Auch in Studien schneiden verschiedene Therapieformen häufig keineswegs gleich gut ab. Besonders eindrucksvolle Beispiele bieten zwei Untersuchungen zur Borderline-Störung, die das Top-Blatt Archives of General Psychiatry vergangenes Jahr [2006] veröffentlichte. Borderline-Patienten leiden an einem stürmischen Gefühlsleben, Identitätsproblemen und neigen zu Selbstverletzungen bis hin zum Suizid.

In der einen Studie verglichen Josephine Giesen-Bloo und Arnoud Arntz von der Universität Maastricht die traditionelle, psychoanalytisch orientierte Therapie mit der neuen schemafokussierten Therapie. Die integriert eine ganze Reihe verschiedener Behandlungstechniken. Nach drei Jahren zeigte sich: Die schemafokussierte Therapie hilft gut doppelt so vielen Patienten.

Dodo-Fan Luborsky führt solche Siege auf eine simple Ursache zurück: Therapieforscher begünstigen die von ihnen bevorzugte Therapierichtung – etwa indem sie sie gegen eine dilettantisch praktizierte Alternative antreten lassen. Tatsächlich konnte er statistisch beweisen, dass die Lieblingstherapie des Forschers meist gewinnt. Die Niederländer hatten für die am Ende unterlegene Behandlung allerdings Therapeuten verpflichtet, die im Schnitt zwölf Jahre Erfahrung in psychoanalytisch orientierter Therapie vorweisen konnten.

Noch gezielter umschiffte Marsha Linehan von der University of Washington diese Klippe. Sie verglich ihre eigene dialektisch-behaviorale Therapie (eine Variante der Verhaltenstherapie) mit der Behandlung von anderen, oft psychoanalytisch orientierten Therapeuten. Ihnen gab sie völlige Freiheit, die Behandlung so effektiv wie nur möglich zu gestalten. Ihre Supervision übernahm der Ausbildungsleiter der angesehenen psychoanalytischen Vereinigung von Seattle. Trotzdem brachen bei den Freud-Anhängern dreimal so viele Patienten die Behandlung ab und doppelt so viele unternahmen Selbstmordversuche.

Für einen Patienten kann es also im Extremfall den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten, welche Psychotherapie er bekommt. „Das Dodo-Verdikt zu akzeptieren, ist gefährlich“, beschwört Dianne Chambless ihre Kollegen.

 


Zum Seitenanfang (mit Links)