Home |
Grenzenloses
Gefühlschaos |
Sie können diesen Beitrag im Internet-Angebot des SWR
hören. Ein Klick auf den Lautsprecher bringt Sie hin. Redaktion: Sonja Striegl Sprecher: Hans Michael Ehl Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist
ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von
allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis
9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 €
erhältlich. Bestellmöglichkeiten:
07221/929-6030! Kennen Sie schon das neue
Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2
Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des
SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem
kostenlosen Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die
zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter
07221/300 200 oder swr2.de! SWR2 Wissen können Sie ab sofort auch
als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als
Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml O-Ton 1 - Petra Link: Als junges Mädchen hab ich mich selbst verletzt, habe auch Selbstmordversuche gemacht, die aber eigentlich nicht unter Selbstmord, sondern eben tatsächlich um diesen inneren Schmerz loszuwerden. O-Ton 2 - Eckhard
Roediger: Deswegen sind sie so im Bewusstsein der Öffentlichkeit ja fast so ein Prototyp von schwieriger Patient. Auch für viele Therapeuten, was nur zum Teil stimmt. Sprecher: „Grenzenloses Gefühlschaos - Wie Borderline-Patienten behandelt werden können". Eine Sendung von Jochen Paulus. O-Ton 3 - Martin Bohus: Die Borderline-Therapie ist sowas wie die Herzchirurgie in der Chirurgie. Das heißt, wenn sie mit Borderline-Patienten arbeiten als Therapeut, dann müssen sie richtig viel können. Sie müssen die Patienten mögen, das ist entscheidend, sie müssen Spaß haben an Überraschungen, an Lebendigkeit. Sie müssen gleichzeitig in der Lage sein, echt zu sein, denn Borderline-Patienten können nichts schlechter ertragen als Therapeuten, die Therapeuten spielen. Sprecher: Borderline - schon der Name der Krankheit hat etwas seltsam Geheimnisvolles. Er klingt nach einem Leben an einer mystischen Grenze - Borderline bedeutet wörtlich Grenzlinie. Doch der Alltag der Betroffenen ist wenig romantisch. Schon als Kind musste Petra Link, die in Wirklichkeit anders heißt, zum Schulpsychologen. Später folgten weitere, teilweise mehrjährige Therapien. An welcher Störung sie eigentlich litt, erkannten die Therapeuten lange nicht. Ihre Probleme allerdings waren offensichtlich. O-Ton 4 - Petra Link: Häufige Beziehungen, die kurzfristig sind, aber sehr intensiv. Dass man aus dem Impuls heraus schnell handelt und nicht so dieses Zurücknehmen kann, also sich zurücknehmen kann. Das war für mich normal, das ist mir erst gar nicht aufgefallen. Aber nach und nach ist mir aufgefallen, dass ich unheimlich schnell reagiere, ohne genau zu wissen warum. Und die Konsequenzen auch gar nicht sehen kann. Sprecher: Bis heute fühlt sie nicht selten eine große Leere in sich. Sie macht dann alles Mögliche, aber nicht das, was sie sich vorgenommen hatte, und die Handlungen scheinen keinen Sinn zu ergeben. Es fällt ihr auch sehr schwer, alleine zu sein. O-Ton 5 - Petra Link: Also oft gebe ich mich hin zu anderen Menschen und verliere das eigentliche Ziel. Also dieses Auflösen in einem andern, weil man das Eigentliche nicht mehr findet und nicht mehr greifbar hat, so erfahre ich diese Leere. Als wäre ich plötzlich wie so ein Gefäß, das den anderen aufsaugt, aber das nie selber gefüllt war. Obwohl das gar nicht stimmt, da ich sehr kreativ arbeite und eigentlich auch sehr, unheimlich viele Ideen habe, dass ich auch immer wieder die Bestätigung bekomme, wie viele. Aber tatsächlich ist diese Arbeit daran plötzlich verschwunden und ich verliere mich in tausend kleine Handlungen. Das empfinde ich als ganz furchtbar. Sprecher: Erst vor ein paar Jahren klärte sich die Diagnose der heute 44-Jährigen: Borderline. Der Psychoanalytiker Adolph Stern wählte diesen Namen im Jahr 1938, weil er die Patienten „an der Grenze" der damals geläufigen Krankheitskategorien sah - zwischen den Neurotikern, die bei klarem Verstand Probleme haben und den geistig verwirrten Psychotikern. Eckhard Roediger, der jahrelang Chef einer Klinik war und heute als niedergelassener Psychotherapeut viele Borderline-Patienten behandelt, erklärt die Namensgebung der Störung so: O-Ton 6 - Eckhard
Roediger: Ursprünglich ist der Begriff aufgetaucht - daher auch der Name - weil man Störungen gefunden hat von Patienten, die nicht richtig psychotisch waren, sondern eigentlich besser funktionierten, auch nicht den defektartigen Verlauf vieler Schizophrener hatten, die aber doch kurze psychotische Episoden hatten, wo sie sehr durcheinander wirkten. Die aber auch impulsiver waren oder mit diesen psychotischen Episoden auch stärker beeinträchtigt waren als die klassischen neurotischen Patienten. Sprecher: Manchmal ergeht es den Betroffenen tatsächlich so wie schwer Geisteskranken, etwa Schizophrenen. Marianne Leuzinger-Bohleber, Professorin für Psychoanalyse in Kassel und Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt. O-Ton 7 - Marianne
Leuzinger-Bohleber: Bei den Borderline-Patienten ist das so, dass die manchmal in gewisse psychotische Zustände rein rutschen, aufgrund von schweren Traumatisierungen in Zustände kommen, wo irgendein Detail sie an die dramatische Situation erinnert und dann verlieren sie völlig die Wahrnehmung zwischen Innen und Außen, Fantasie und Realität und ticken dann, wenn man so will, wie ein Psychotiker. Sprecher: Aus heutiger Sicht stiftet der Name „Borderline" eher Verwirrung als Klarheit. BorderlinePatienten sind keine Grenzgänger zwischen verschiedenen Erkrankungen. Borderline ist eine eigene Störung und die Psychiater wissen immer noch nicht genau, wie sie sie einordnen sollen. Lange war Borderline eine Verlegenheitsdiagnose für Patienten, die den Psychiatern schwierig vorkamen, aber keinem Krankheitsbild so richtig entsprachen. Im Moment wird Borderline zu den Persönlichkeitsstörungen gezählt, zu denen beispielsweise auch der Narzissmus gehört. Aber Fachleute diskutieren, ob die Borderline-Störung nicht etwas ganz eigenes ist. Auch die Häufigkeit der Störung erscheint seit kurzem in neuem Licht. Es gibt viel mehr Borderline-Patienten als lange angenommen wurde. Ältere, eher kleine und methodisch angreifbare Studien fanden etwa zwei Prozent Borderline-Patienten in der Bevölkerung. Doch in einer riesigen repräsentativen US-Studie mit fast 35.000 Teilnehmern aus dem Jahr 2008 erhielten sechs Prozent die Diagnose. Männer waren genauso oft erkrankt wie Frauen. Auch wo der Kern der Störung liegt, wird immer klarer: Die Patienten schaffen es nicht, ihre Gefühle so zu regulieren, wie andere, sagt der Psychiatrieprofessor Martin Bohus, Ärztlicher Direktor am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit: O-Ton 8 - Martin Bohus: So dass die Patienten das Gefühl haben, sie werden mehr oder weniger terrorisiert von ihren Emotionen, sie sind denen ausgeliefert. Im Jargon gesagt, die Emotionen oder Gefühle fahren mit ihnen Schlitten. Nicht umgekehrt. Wo wir meistens sonst der Meinung sind, wir haben Emotionen, so haben Borderline-Patienten das Gefühl, die Emotionen haben sie. Sprecher: Oft werden die Patienten von ihren Gefühlen so überwältigt, dass sie Entscheidungen treffen, die sie hinterher bereuen. Petra Link ist es oft so ergangen. O-Ton 9 - Petra Link: Zum Beispiel habe ich in meinem Leben abgetrieben und weiß heute, dass ich die Kinder gerne, also dass das damals eine wirklich impulsive Handlung aus einer Verletzung heraus war. Die auch schwerwiegend war. Also für mich und meinen Partner, der damals auch zu mir gehalten hat. Aber ich konnte, ich habe starke Depressionen in der Zeit bekommen, konnte damit nicht mehr umgehen, hatte keine Hilfe und habe dann eine impulsive von heute auf morgen Entscheidung, der Gedanke war da, aber ich bin dann einfach hingegangen und habe es gemacht ohne Rücksprache zu halten. Sprecher: So seltsam es klingt - Wissenschaftler können heute solche überstürzten Entscheidungen wenigstens ein Stück weit auf Vorgänge im Gehirn zurückführen. In seinen Tiefen agieren die beiden Mandelkerne, auch Amygdalae genannt. Sie sind das Zentrum eines Regelkreises im evolutionär uralten limbischen System, das immer noch zu schnellen Gefühlen und Reaktionen neigt. Wissenschaftler wie Martin Bohus können heute verfolgen, wie diese Gehirnstrukturen bei verschiedenen Menschen reagieren. Dazu schieben sie Patienten in die Röhre eines Magnetresonanztomografen und registrieren die Gehirnaktivität. O-Ton 10 - Martin Bohus: Wir wissen, wie es funktioniert. Also wir können davon ausgehen, das zeigen wir auch in der Bildgebung, wenn wir Borderline-Patienten emotionale Bilder zeigen oder ähnliches, dann reagieren die Amygdalae, das sind unsere Alarmzentren im Gehirn, sehr sehr hoch sensitiv und halten deutlich länger an als bei Gesunden. Sprecher: Die Mandelkerne lassen den Gefühlen also freien Lauf. Das können sie wahrscheinlich deshalb, weil ihre natürlichen Gegenspieler bei Borderline-Patienten geschwächt sind. O-Ton 11 - Martin Bohus: Unsere frontalen Areale, also unsere Areale im Vorderhirn, die eigentlich entwickelt wurden um diese Affekte zu drosseln und runter zu regulieren, die sind bei BorderlinePatienten alteriert, also verändert, das heißt, die Volumina sind kleiner, die Neuronendichte ist verringert, verschiedene Transmitter sind nicht so ausgeprägt. Sprecher: Die Areale im Vorderhirn gleich hinter der Stirn sind somit nicht mehr in der Lage, Gefühle auf ein vernünftiges Maß zu drosseln. Psychiatrie-Professor Bohus vergleicht das Ergebnis mit einem schlecht konstruierten Auto: O-Ton 12 - Martin Bohus: Die Amygdala sind der Motor und das Vorderhirn sind die Bremsen. Und wir erklären es unseren Patienten immer so: Das ist so, sie sind ein Porsche mit den Bremsen eines Polos. Sprecher: Deshalb werden die Patienten von Gefühlen geradezu überschwemmt. Sie entwickeln Gegenmaßnahmen, die momentan Erleichterung bringen, aber neue Probleme schaffen. Sie tun beispielsweise das, was oft als das Symptom der Borderline-Störung schlechthin präsentiert wird, aber eigentlich ein paradoxer Versuch ist, sich selbst zu helfen. Sie schneiden sich in die Haut, etwa mit einer Rasierklinge. Sie spüren dabei keinen Schmerz. O-Ton 13 - Martin Bohus: Wir führen Versuche durch im Augenblick, wo Patienten auch selber teilnehmen, wo wir zeigen, dass die Verletzungen tatsächlich in der Lage sind, Amygdala runter zu regulieren. Das heißt, bei einem Gesunden, wenn er sich verletzt, dann signalisiert das Gehirn Alarm und sie kommen in eine hohe Anspannung oder in eine Angstsituation. Während bei Borderline-Patienten es umgekehrt ist, das heißt, wenn die sich schneiden, dann regelt es die Amygdala runter. Warum das so ist, wissen wir noch nicht. Wir wissen auch noch nicht, wie die Neurochemie dazu ist. Sprecher: Es gibt allerdings in jüngster Zeit immer mehr Indizien, dass schon lange Verdächtige in den Fall verwickelt sein könnten: die körpereigenen Opiate. Borderline-Patienten verfügen über weniger von diesen natürlichen Schmerzmitteln und Besänftigern. Diesen angeborenen Mangel versuchen sie zu lindern, indem sie sich selbst verletzen, damit der Körper diese Stoffe ausschüttet. Auch Petra Link hat sich als Jugendliche geschnitten, wenn auch nicht so exzessiv wie andere Betroffene. Sie hat Tabletten geschluckt. Und sie hat Suizidversuche unternommen. Sie wollte sich eigentlich nicht selbst etwas antun, sie wollte nur einen unerträglichen Zustand beenden. O-Ton 14 - Petra Link: Es ist so eine surreale Welt, in die ich entfliehen kann und dem Realen, das mir ja sehr schmerzhaft erscheint, weil, weil ich nicht die Facetten alle habe, die andere Menschen haben, die vielleicht mehr mitbekommen haben in der Kindheit. Dadurch ist es schwarzweiß und ich will da raus. Also von diesem was mich unheimlich verletzt, was gerade sehr mich tief bewegt und auch verzweifeln lässt und ich auch keine Hoffnung habe, dass sich das ändert, ist dieser Schritt, dann doch lieber ganz weg, so eine Flucht. Nicht mit der Konsequenz, dann bin ich für immer weg, sondern eher so: Ich kann nicht mehr, also es geht einfach nicht mehr. Sprecher: Schon wegen der vielen Suizidversuche behandeln Therapeuten BorderlinePatientinnen traditionell ungern. Auch ihre stürmischen Gefühle schrecken ab - häufig sehen sie im Therapeuten erst ihren Retter, nur um ihn wenig später enttäuscht zu kritisieren. Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, also muss auch die Persönlichkeit behandelt werden. Professor Sven Olaf Hoffmann, langjähriger Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz, beschrieb das Problem vor 15 Jahren so: O-Ton 15 - Sven Olaf Hoffmann: Wo nicht nur ein Symptom da ist, sondern wo das Funktionieren der Gesamtperson, das Erleben von Glück und Zufriedenheit, die Partnerbeziehung, die sozialen Beziehungen, wo das gestört ist, da haben wir es plötzlich nicht mehr mit der Beseitigung von Symptomen zu tun, sondern da geht es um etwas ganz anderes. Also was mehr mit den Grundbedingungen der Person zu tun. Sobald Sie Persönlichkeitsstörungen haben, da geht nix mehr schnell. Sprecher: Bei Borderline-Patienten ging häufig überhaupt nichts, die Besserungsquoten waren miserabel. Peter Fonagy, Professor für Psychoanalyse am University College in London, hielt 2006 in einem Kommentar für die führende britische Psychiatrie-Zeitschrift sogar fest, dass behandelte Borderline-Patienten länger krank blieben als unbehandelte Leidensgenossen. Während die Unbehandelten nach sechs Jahren fast alle genesen waren, schafften es nur zwei Drittel der Behandelten innerhalb von vierzig Jahren. Fonagy vermutet: Die Therapeuten wollten so komplizierte Erklärungen vermitteln, dass die Patienten überfordert waren und Worte des Therapeuten entweder in Bausch und Bogen ablehnten oder sie unkritisch akzeptierten, aber in keinem Fall verstanden. Fonagy geht davon aus, dass Borderline-Patienten große Schwierigkeiten haben, zu verstehen, was zwischen Menschen vorgeht und sich in andere hineinzuversetzen. Diese Kunst nennt der psychoanalytische Borderline-Experte Mentalisierung. Marianne Leuzinger-Bohleber, die Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts holte Fonagy 2007 zu einem mehrtägigen Kurs nach Frankfurt: O-Ton 16 - Marianne
Leuzinger-Bohleber: Peter Fonagy zusammen mit Gergely und Mary Target, die haben ja diese Mentalisierungstheorie entwickelt. Und die kommt sehr stark aus der Entwicklungspsychologie. Und sie beschreiben da die Fähigkeit von Kindern, sich in den seelischen Zustand des anderen rein zu versetzen. Und das ist ein Entwicklungsschritt, der eben zum Beispiel bei Borderline-Störungen nicht stattfindet oder ungenügend stattfindet. Oder eben bei der Reaktivierung von traumatischen Erinnerungen geht diese Fähigkeit dann wieder verloren. Gewalttätige Mörder, die können dann zuschlagen, weil sie die Einfühlung, dass sie den anderen umbringen, völlig verloren haben. Die wissen nicht, wie es dem Opfer geht und dass ist eben gefährlich. Sprecher: Tatsächlich sind Straftäter öfter als andere an einer Borderline-Störung erkrankt. Fonagy hat mit jungen Mördern in Gefängnissen gearbeitet und dabei extreme Fälle kennengelernt. O-Ton 17 - Marianne
Leuzinger-Bohleber: Also ein Jugendlicher, der von seinem Stiefvater, weil er was geklaut hat, wurde er mit Nägeln an seinen Bettpfosten genagelt, also wie gekreuzigt, also das sind schon extreme Gewalttaten. Und um das überhaupt auszuhalten, hat dieser Jugendliche eben fast einen psychotischen Zustand entwickelt. Er hat angefangen zu lachen und hat gesagt, mir tut das nicht weh. Sprecher: In das verwirrte Gefühlsleben der Patienten will Fonagy mehr Klarheit bringen. Zusammen mit einem Kollegen hat er eine Behandlung für Borderline entwickelt, die Mentalisierungsbasierte Therapie. Eine Technik besteht darin, dass der Therapeut sich ein Stück weit unwissend stellt, um den Gefühlen des Patienten auf die Spur zu kommen: O-Ton 18 - Marianne
Leuzinger-Bohleber: Und nachfragt. Also sagt, ja, wenn Sie mir jetzt erzählen, Sie haben sich geärgert über ihre Kollegen an der Arbeitsstelle, dann fragt der Therapeut, ja ich kann mir das so schlecht vorstellen, können Sie mir das nochmal etwas erklären? Was meinen Sie mit Ärger? Was war das für eine Kollegin? Und sie zwingen den Patienten dann sehr, den inneren Zustand zu explorieren. Sprecher: Obwohl Fonagy Psychoanalytiker ist, arbeitet er zielgerichteter als von Freud vorgesehen. Die Mentalisierungsbasierte Therapie soll den Patienten vor allem erst einmal stabilisieren. Der Therapeut muss nicht jederzeit neutral sein wie traditionell in der Psychoanalyse, sondern darf auch eigene Gefühle erwähnen. O-Ton 19 - Marianne
Leuzinger-Bohleber: Wenn ihn anfängt, der Borderline-Patient, plötzlich zu beschimpfen, dann sagt er, das betrifft mich jetzt, ich wollte sie nicht wütend machen. Können Sie mir sagen, warum sie jetzt wütend sind? Könnte es sein, dass sie in dem Satz, den ich vorher gesagt habe, dass ich sie irgendwie verletzt habe? Sprecher: Die erst vor wenigen Jahren veröffentlichte Mentalisierungsbasierte Therapie gehört zu den wenigen Behandlungen für die Borderline-Störung, die nachweislich helfen, urteilt Martin Bohus vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim: O-Ton 20 - Martin Bohus: Wir haben derzeit drei gut wissenschaftlich erwiesene Konzepte, das ist die DBT, also dialektisch-behaviorale Therapie, wir haben die Schematherapie und wir haben das, was man Mentalization Based Treatment nennt, eine psychoanalytische Therapie. Sprecher: Bohus selbst vertritt die dialektisch-behaviorale Therapie, die als Goldstandard bei Borderline gilt. Sie wurde Ende des vergangenen Jahrhunderts von Marsha Linehan entwickelt, einer Psychologie-Professorin der University of Washington. Die dialektisch-behaviorale Therapie ist bislang die einzige, die nachweislich die Zahl der Suizidversuche von Borderline-Patienten halbieren kann. Ihr gelingt es auch besonders gut, die Patienten davon wegzubringen, sich selbst zu verletzen. Manche Methoden der DBT muten etwas unorthodox an, aber sie helfen. O-Ton 21 - Martin Bohus: Patienten lernen ja von uns so genannte Skills in der Gruppe. Das sind Fertigkeiten, die ich einsetzen kann unter Hochspannung. Das ist relativ einfach: Wenn mein Gehirn in extremer Hochspannung ist, dann brauche ich starken sensorischen Input, also starke sensorische Signale, um diese intensive Anspannung zu senken. Die bestwirksamsten sensorischen Signale sind Schmerzreize, also zum Beispiel Kälteschmerz. Eiswürfel in Mund nehmen, Chilischoten kauen. Also lauter extrem intensive Reize, die beim Gesunden fast überfordernd sind, die kommen bei Patienten in diesen hohen Anspannungszuständen so gerade an, führen aber dazu, dass das Gehirn sozusagen ein Signal bekommt: Achtung, etwas wichtiges ist außerhalb deines Binnenbereichs, orientiere dich mal wieder an der Realität und dadurch geht diese Anspannung runter. Sprecher: Chilischoten kauen und dergleichen ist natürlich noch keine Psychotherapie. Aber es kann dafür sorgen, dass die eigentliche Behandlung überhaupt möglich wird. Während der Behandlung lernen die Patienten dann nicht nur welche Alternativen es zu ihren problematischen Verhaltensweisen gibt, sondern auch, im entscheidenden Moment an diese Alternativen zu denken. O-Ton 22 - Martin Bohus: Wenn die Patientin sich schneidet und sie ist stationär zum Beispiel, dann wird sie als allererstes sagen, gut also sie hat sich jetzt geschnitten. Schneiden ist dysfunktionales Problemlösen, so schwierige Worte lernen unsere Patienten. Das heißt, es ist etwas was kurzfristig hilft, langfristig schädlich ist, aber immer ausgelöst wird durch einen hohen Anspannungszustand. Die Patientin setzt sich anschließend hin, nimmt ein Papier auf dem steht okay, was waren die äußeren Auslöser, was waren meine Gedanken, was waren meine Emotionen, was habe ich versucht, das runter zu regulieren oder anders zu machen? Wann bin ich auf die Idee gekommen, mich zu schneiden? Dann habe ich mich geschnitten und jetzt kann ich überlegen, was mache ich in Zukunft stattdessen. Sprecher: Ein wichtiger Teil der dialektisch-behavioralen Therapie sind Meditationsübungen, die Marsha Linehan aus dem Zen entlehnt hat. Wenn ein Patient dabei spirituelle Erfahrungen macht, ist das gut, aber die Übungen haben auch einen nicht transzendentalen Sinn. Auch sie helfen, die starken Emotionen in den Griff zu bekommen, von denen Borderline-Patienten oft überwältigt werden. Die Patienten üben etwa sechs Wochen lang täglich, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Das ist natürlich nicht so einfach, das Gehirn schweift oft ab. O-Ton 23 - Martin Bohus: Und dann ist derjenige, der meditiert angehalten, das zu realisieren und zu sagen, oh, ich denke an irgendwas oder ich habe ein Bild. Und jetzt fange ich wieder an bei eins. Das heißt, das Hirn lernt, aus aktivierten Assoziationsmustern, also kognitiv-emotionalen Mustern auszusteigen. Diese kognitiv-emotionalen Muster, wenn sie sehr stark sind, erklären sich für wichtig. Wir sagen immer: Emotions love themselves. Also die sagen: Gut, dass du mich jetzt denkst, sonst hättest du mich vergessen. Und was man mit diesen Meditationsübungen trainiert, ist, dass man immer wieder sagt, okay Achtung, ich denke. Das Gehirn entwickelt einen automatisierten Prozess und man kann aussteigen daraus, indem man diesen Prozess in einer Art Sprung beobachtet. Sprecher: Man sieht sich gewissermaßen selbst beim Denken zu und kann dadurch die automatischen Denkprozesse unterbrechen. Die dritte neue Behandlung für Borderline, die Schematherapie, ist eine Art Shooting-Star im großen Feld der Psychotherapien. Wie die dialektisch-behaviorale kommt sie aus der anerkannten Verhaltenstherapie. Im Jahr 2006 zeigte eine niederländische Studie, die im Psychiatrie-Topblatt „Archives of General Psychiatry" veröffentlicht wurde: Schematherapie ist weit wirksamer als die traditionelle Therapie. Die Schematherapie wurde in den 80-er Jahren von Jeffrey Young in New York konzipiert. Eckhard Roediger lehrt und praktiziert sie in Frankfurt. O-Ton 24 - Eckhard
Roediger: Ein Schema ist sozusagen ein Wort für eine in den Neuronen eingebrannte Bereitschaft zu reagieren. Also wenn ich als Kind immer wieder erlebt habe, vernachlässigt zu werden, im Stich gelassen zu werden, ist diese Erfahrung in mein Gehirn eingebrannt und liegt sozusagen in der Schublade - etwas bildlich gesprochen - und alle Situationen später, die irgendwie ähnlich sind, ähnlich wirken, drücken auf den Knopf und die Schublade springt auf und man erwartet sozusagen schon Vernachlässigung, im Stichgelassensein. Und das erklärt die Sensibilität dieser Menschen. Sprecher: Sehr viele Borderline-Patienten haben in ihrer Kindheit schlechte Erfahrungen gemacht. Dabei muss es nicht immer gleich sexueller Missbrauch gewesen sein, auch wenn es Medienberichte manchmal suggerieren. O-Ton 25 - Eckhard
Roediger: Diese Kopplung ist ganz so eng nicht. Also es gibt viele Missbrauchte, die keine Borderline-Störung haben und nicht alle Borderliner haben Missbrauchserfahrungen. Die Schätzungen sind etwas unterschiedlich, aber man kann sagen, zwischen 50 Prozent und dreiviertel der Patienten berichten über Formen von körperlicher und oder sexueller Gewalt - das ist ja auch oft gar nicht so getrennt. Sprecher: Petra Link wurde nicht missbraucht, aber sie wurde sehr autoritär erzogen. Schläge drohten auch. O-Ton 26 - Petra Link: Doch mein Vater, also es gab bei uns schon diesen Moment, dass ich bestraft werden sollte und dass ich dann auch von zuhause weggelaufen bin soweit ich konnte, erst mal für ein paar Stunden, um meine Ruhe zu haben, also eben nicht bestraft werden. Und ich glaube, diese Spannung, dass ich als Kind immer emotionaler oder viel emotionaler Spannung ausgesetzt war, das hat mich einfach nicht zur Ruhe kommen lassen. Sprecher: Es gibt etliche Schemata, denen die Therapeuten bei Borderline-Patientinnen immer wieder begegnen. Misshandlung ist nur eines. O-Ton 27 - Eckhard
Roediger: Dazu kommt das Schema Unzulänglichkeit, Scham, das bei Borderlinern sehr stark ausgeprägt ist, weil die eben immer wieder die Erfahrung gemacht haben, du bist nicht okay. Es gibt auch das Schema Verletzbarkeit, was natürlich durch übergriffige Eltern, durch verletzende Eltern ausgelöst wird. Abhängigkeit gibt es auch, dass sich die Menschen eben abhängig von anderen erleben, wenn es übergriffige, dominante, überkontrollierende Eltern waren. Sprecher: Petra Link reagiert extrem empfindlich auf Zurückweisungen, weil sie so oft mit ihnen fertig werden musste. Dann springt bei ihr eine Schublade auf, ohne dass sie etwas dagegen tun kann. O-Ton 28 - Petra Link: Wenn ich Kritik höre, dann kann ich sehr, sehr schwer mich zurücknehmen, sondern reagiere sehr impulsiv. Und dieses Zurücknehmen ist in mir gar nicht drin und es ist gar nicht eine Bösartigkeit, sondern es ist tatsächlich, dass die kleinste Ahnung, dass ein Mensch mich zurückweist, der mir sehr nah ist, erzeugt bei mir unheimliche Ängste. Und dann schlage ich nach außen statt mich hinzusetzen und zu merken, okay, das sind alte Ängste, ganz ruhig bleiben. Und da sind schon viele Menschen sehr verletzt worden und ich natürlich auch, weil ich die Menschen verloren habe. Sprecher: In der Therapie lernen die Patienten auf solche Schemata zu achten. Ihre Beobachtungen schreiben sie auf. Dabei nutzen sie auch Metaphern. Schemata können beispielsweise als Kinder verkörpert werden. O-Ton 29 - Petra Link: Ich schreibe jeden Tag auf, was die Kinder in mir fühlen. Das klingt für normale Menschen völlig verrückt, aber so aufzuschreiben, was ich fühle, also, und wie ich dann mich selbst beruhige. Also nicht nach außen gehen, eine Freundin anrufen, die mich dann beruhigt, sondern zu versuchen, mit mir selbst zu kommunizieren, mir Dinge zu sagen, die mich aus diesem Schmerz auch wieder heraus holen. Und das muss ich aufschreiben, weil das Aufschreiben eine größere Klarheit bringt. Sprecher: Ziel der Therapie ist es natürlich, die Schemata zu verändern. Dazu dienen verschiedene Übungen. Beispielsweise gehen die Patienten bei Vorstellungsübungen wie in einer Film-Rückblende zurück in ihre Kindheit. Sie lassen die alten Gefühle lebendig werden. Sie erkennen dabei, woher ihre heutigen Gefühle kommen und dass sie nicht mehr angemessen sind. Bei einer anderen Technik setzt sich der Patient abwechselnd auf verschiedene Stühle. Auf jedem schlüpft er in die Rolle einer anderen Person, die jeweils eines der widersprüchlichen Gefühle repräsentiert. Da gibt es beispielsweise das Kind, das der Patient einmal war, oder den Vater, auf den seine Minderwertigkeitsgefühle zurückgehen. Solche verinnerlichten Gefühle stellt er nun als Personen dar, sagt etwa, was der Bewerter meint, der immer etwas auszusetzen hat. O-Ton 30 - Petra Link: Es ging um Vernachlässigung und auch darum, dass der Bewerter mich selbst eigentlich immer als sehr unzulänglich darstellt, nicht gut genug zum Beispiel. Und dass natürlich dann ein unheimlicher Druck auf mir lastet, wenn ich permanent das Gefühl habe, ich bin nicht gut genug, mache alles falsch oder nicht liebenswert ist auch so ein Punkt. Oder Schuld. Also das ist wirklich ein Thema meiner Eltern gewesen: du bist schuld. O-Ton 31 - Eckhard
Roediger: Also man teilt die Patienten auf und lässt bewusst die Wut zum Beispiel auf einem Stuhl sprechen - das wäre ein Kindmodus, der spontan, emotional aus dem Bauch heraus die Wut fühlt und dann auch mal sagen kann. Und auf der anderen Seite sitzen dann diese inneren Bewerter und Bestrafer, also diese Eltern-Instanzen und schimpfen. Und dann kann das richtig hoch hergehen, vom Therapeuten manchmal sogar angefeuert, aber auch bewacht, und in der Mitte sitzt dann der gesunde Erwachsene und muss gucken, wie er das dann reguliert. Dass er dann zum Beispiel diese Bestrafer einfach raus setzt und sagt, jetzt ist es vorbei. Ich lass mich von euch hier nicht mehr klein machen. Sprecher: Mehr als in vielen anderen Therapien unterstützt der Therapeut die Behandelten nicht nur nach Kräften, er fordert auch viel und setzt Grenzen. Denn die Patienten sollen lernen, dass es erlaubt ist, Grenzen zu ziehen, dass sie aber auch die von anderen respektieren müssen - trotz ihrer hochkochenden Gefühle. Der Therapeut vermittelt also, was gute Eltern ihren Kindern beibringen. Schematherapeuten nennen diesen Prozess „Nachbeelterung", auch wenn das etwas seltsam klingt. O-Ton 32 - Eckhard
Roediger: Und nach und nach übernimmt der Patient die Rolle des Therapeuten und baut innerlich jetzt eine gute Elterninstanz auf, so wie der Therapeut ihm das zeigt, und dann hat er sozusagen neben den belastenden Eltern-Instanzen auch eine positive und kann umsteigen. Er kann dann, wenn die inneren Eltern sich melden, die zurückweisen und bewusst übersteigen und sagen, ich mache es anders. Sprecher: Der Prozess dauert nicht so lange wie eine normale Erziehung, aber etwa zwei Jahre mit wöchentlichen Sitzungen sind nötig. Mit Petra Link geht es nach einem knappen Jahr in Behandlung aufwärts, auch wenn es Rückschläge gab. O-Ton 33 - Petra Link: Manches merke ich schon, dass ich mich besser selbst halte. Aber trotzdem ist meine Beziehung zerbrochen. Das hat die nicht standgehalten und das ist eigentlich genau das, was mich unheimlich umwirft dann. Sprecher: Doch ihre Erfolgsaussichten sind nicht schlecht, wie ein Blick in die wissenschaftlichen Daten zeigt. O-Ton 34 - Eckhard
Roediger: Die Behandlungen von Borderlinern sind sicherlich nicht einfach. Aber es gibt auch dort sehr ermutigende Verläufe, wo in einer Studie die Hälfte nach zwei bis drei Jahren Behandlung kein Borderliner mehr war und zwei Drittel gute Therapieergebnisse erzielten. Das ist nicht so aussichtlos. Sprecher: Auch der Mannheimer Psychiatrieprofessor Bohus rechnet bei einer guten Therapie mit einer Erfolgsquote von siebzig Prozent. O-Ton 35 - Martin Bohus: Wenn es gelingt, Patienten in
diesen Prozess reinzubringen, dann werden BorderlinePatienten ganz, ganz
tolle Menschen. Sie bleiben sensibel, sie bleiben empfindsam, sie sind
äußerst wertvoll für ihre Umgebung. Sie sind von vielen sehr gemocht und
bleiben auch immer ein bisschen stressanfällig und müssen lernen, mit sich
umzugehen. Aber wenn's gelingt, dass sie Verantwortung übernehmen können,
dann spricht nichts dagegen, denen eine sehr, sehr günstige Prognose zu
geben.
|