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50 Jahre
Valium Ein
folgenschwerer ,Sieg' über die Angst |
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unter nächsten Sprecherintext) Ich bin da und bin es nicht. Ich verliere mein Gesicht. Ich lebe im Delirium. Ich bin Prinz Valium. Ich bin Prinz Valium. Sprecherin: Kaum ein Arzneimittel war jemals so populär. Zusammen mit seinen
Verwandten gehörte es jahrelang zu den meistverschriebenen Medikamenten der
Welt, möglicherweise war es sogar das am meisten verschriebene. Kaum ein
Arzneimittel wurde jemals so verdammt. „Opium für die Massen" nannte es
ein prominenter Psychiatrieprofessor. Das führende Wissenschaftsmagazin
„Science" prangerte vor allem seinetwegen die „mit Medikamenten
überbehandelte Gesellschaft" an. Jeder kennt den Namen des Mittels, das
vor fünf Jahrzehnten auf den Markt kam: Valium. Musik Böhse Onkelz: Prinz Valium (anschließende
Instrumentalpassage unter nächsten Sprecherintext) Ich bin da und bin es nicht. Ich verliere mein Gesicht. Ich lebe im Delirium. Ich bin Prinz Valium. Ich bin Prinz Valium. Sprecherin: „Fünfzig Jahre Valium - Folgenschwerer ,Sieg' über die Angst". Eine Sendung von Jochen
Paulus. Musik Böhse Onkelz: Prinz Valium Ich bin Prinz
Valium, Ich bin Prinz Valium. Sprecherin: Valium ist nur das prominenteste Mitglied einer ganzen Familie von
Medikamenten - den Benzodiazepinen. Sie beruhigen, machen panische und
tobende Patienten ansprechbar, entspannen die Muskeln und stecken in etlichen
Schlafmitteln. Sie helfen vielen Menschen und sie stürzen viele ins Elend.
Oft sind sie erst ein Segen und dann ein Fluch. Meist beginnt alles ganz harmlos,
so wie bei dem Reiseverkehrskaufmann, den wir hier Horst Schenk nennen. O-Ton 1 - Horst Schenk: Ich habe im Ausland gearbeitet, für eine große Firma
im Ausland gearbeitet und der Stress begann eben 85, Schlafstörungen. Und
daraufhin habe ich mich bei meinem Hausarzt gemeldet in Deutschland und der
verschrieb mir dann sofort Rohypnol, was natürlich eines der stärksten Mittel
ist, Rohypnol, allerdings nur ein Milligramm. Und an diesem einen Milligramm
pro Nacht bin ich hängen geblieben bis heute. Sprecherin: Das Benzodiazepin half -
lange Jahre. O-Ton 2 - Horst Schenk: Ich konnte schlafen, ich war eigentlich auch ausgeglichen, ich konnte
meine Arbeit hundertprozentig erledigen. Und das war für mich das
Ausschlaggebende: hundertprozentig, mehr als hundertprozentig da zu sein. Sprecherin: Heute gehören Psychopharmaka - also Medikamente, die vor allem auf
die Psyche wirken - in jeder Apotheke zu den Bestsellern. Ärzte verschreiben
sie routinemäßig. Gegen Ängste. Gegen Wahnvorstellungen. Gegen Depressionen.
Gegen Unaufmerksamkeit. Doch noch Mitte des 20. Jahrhunderts war das anders.
Es gab noch keine „echten" Psychopharmaka, nicht einmal in den
psychiatrischen Kliniken. Jules Angst, emeritierter, aber weiter forschender
Professor der Universität Zürich, hat diese Zeiten noch miterlebt. O-Ton 3 - Jules Angst: Ich kam 1951 in die Psychiatrie, als es noch keine modernen
Medikamente gab. Und das war damals noch wirklich eine gefährliche Sache in
der Klinik zu arbeiten - für beide Seiten. Für die Patienten, die wurden
verletzt durch andere Patienten, wie auch fürs Personal. Es gab Statistiken
über die Verletzungen des Personals. Und es wurden keine Gabeln und keine
Messer gegeben zum Essen, weil das zu gefährlich war. Nur so als kleines
Zeichen, wie die Atmosphäre war. Und man war eingesperrt und so weiter. Sprecherin: Psychische Probleme wurden lange mit Barbituraten bekämpft, die vor
mehr als einem Jahrhundert herauskamen, im Jahr 1903. Heute zählen sie zu den
streng regulierten Betäubungsmitteln, weil sie abhängig machen. Doch zunächst
erfreuten sie sich großer Beliebtheit. Virginia Woolf nahm sie gegen ihre
Depressionen. Sie wirken auch gegen Ängste, aber vor allem sind sie starke
Schlafmittel. Als Marcel Proust einmal wütend war wegen seiner
Schlaflosigkeit, nahm er eine ganze Packung Veronal, dazu noch ein anderes
Barbiturat und Opium. „Ich schlief nicht, sondern litt schrecklich",
notierte er. Dabei hatte er noch Glück. Schon eine mäßige Überdosis kann zum
Tod führen, weshalb Barbiturate als klassische Suizidmittel galten. In den
Kliniken waren hilflose Psychiater noch auf eine andere Einsatzmöglichkeit
für die Barbiturate gekommen. O-Ton 4 - Jules Angst: Dann gab es noch die sogenannten Schlafkuren, wo man Schwerst-Erregte
während fünf oder acht Tagen einfach in einen Tiefschlaf versetzte, um sie
quasi zu beruhigen. Man hat damals noch gedacht, Schlaf dieser Art ist
gesund. Trägt zur Gesundung bei. Sprecherin: Erst im Verlauf der 1950-er Jahre kamen schnell nacheinander die
ersten echten Psychopharmaka auf den Markt. Chlorpromazin gegen Psychosen,
Lithium (sprich: Li-ti-jum - mit „t") gegen Manien, verschiedene
Antidepressiva. Sie brachten oft beträchtliche Risiken mit sich und wurden
zur Ruhigstellung von Patienten missbraucht. Aber sie wirkten. 1955 kam dann
der Vorläufer der Benzodiazepine heraus: Miltown [sprich: Miltaun]. In den
USA wurde Miltown praktisch sofort zum Shootingstar unter den Arzneimitteln.
Binnen zehn Jahren wurden 14 Milliarden Tabletten abgesetzt. Apotheken
hängten Schilder ins Schaufenster: „Miltown ausverkauft, morgen mehr!"
Die besten Kunden waren Menschen, die von Ängsten geplagt wurden oder auch
nur von schweren Alltagssorgen. Miltown war das, was die Rolling Stones
später sarkastisch besangen als „Mutters kleine Helfer" - Mother's
Little Helper -, eine Pille, die das Hausfrauen-Dasein samt der nervigen
Kinder erträglicher zu machen schien. Musik The Rolling Stones: Mother's Little Helper
(Instrumentalpasagen vielleicht schon unter Schluss von letztem
Sprecherintext und Anfang vom nächsten) "Things are different
today" I hear ev'ry mother say. Cooking fresh food for a husband's just a drag. So she buys an instant
cake and she burns her frozen steak. And goes running for the shelter of a
mother's little helper. And to help her on her way, get her through her busy
day. Sprecherin: Der Pharma-Riese Hoffmann-La-Roche wollte ebenfalls vom Boom
profitieren. Er gab Leo Sternbach den Auftrag, ein noch wirksameres
Beruhigungsmittel zu schaffen. Die Firma hatte den jüdischen Chemiker in ihr
US-Labor nach New Jersey geschickt, um ihn vor den Nazis in Sicherheit zu
bringen. Sternbach experimentierte mit Stoffen, aus denen er Jahre vorher in
Krakau erfolglos Farbstoffe hatte synthetisieren wollen. Doch auch als
Beruhigungsmittel wirkte keine der neu erzeugten Varianten, die er im
Tierversuch testen ließ. Sternbachs Team gab auf. Aber beim Aufräumen fanden
die Forscher eine zwei Jahre zuvor hergestellte Variante, die sie wegen
anderer Arbeit nicht hatten testen lassen. Nur um die Sache abzuhaken,
schickte Sternbach sie zum Test an Mäusen. Das Ergebnis kam schnell. Die
Substanz wirkte wesentlich stärker als Miltown. Schon zweieinhalb Jahre
später, im Jahr 1960, kam sie unter dem Namen Librium auf den Markt - als
erstes Benzodiazepin. Musik The Rolling
Stones: Mother's Little Helper Doctor
please, some more of these. Outside the door, she took four more. What a drag
it is getting old. Sprecherin: Die Benzodiazepine haben ihren Namen nach
ihrer chemischen Struktur. Sie enthalten einen Benzolring - also ein Gebilde
mit sechs Kohlenstoff-Atomen in Form einer Bienenwabe. Dazu kommt ein zweiter
Ring, bei dem aber zwei Kohlenstoffatome durch Stickstoffatome ersetzt
sind. Deshalb ist es ein Diazepin-Ring. Sternbach bastelte weiter an solchen
Benzodiazepin-Molekülen herum, indem er die an den beiden Ringen hängenden
Komponenten veränderte. Schon 1963, also vor genau fünfzig Jahren, brachte
seine Firma das nächste Präparat heraus: Valium. Es wirkte noch besser als
Librium. Die neuen Präparate traten nicht nur gegen das ähnlich wirkende
Miltown an, sondern auch gegen die gefährlichen Barbiturate. Die Sieger
standen schnell fest, weiß Hans-Jürgen Möller, bis 2012 Psychiatrieprofessor
der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor ihrer psychiatrischen
Klinik. Er hat ein Buch über die Benzodiazepine mit verfasst. O-Ton 5 - Hans-Jürgen Möller: Die Benzodiazepine haben dann eigentlich diesen alten Präparaten,
insbesondere den ganz alten, völlig das Wasser abgegraben, weil sie eben sehr
leicht zu handhabende Medikamente sind. Weil sie keine großen Gefahren der
Überdosierung haben, insbesondere nicht der tödlichen Überdosierung und weil
sie vom Patienten selber als sehr angenehm erlebt werden. Sprecherin: Schon Ende der 60-er Jahre war Valium in der ganzen westlichen Welt
das meistverkaufte Psychopharmakon. Zu seinen besten Zeiten nahm Roche damit
600 Millionen Dollar jährlich ein. Sternbach und seine Leute synthetisierten
immer mehr Benzodiazepine, insgesamt über tausend. Etliche wurden ebenfalls
zu Bestsellern, etwa Lexotanil, Dalmane und Rohypnol. Auch die Konkurrenz
brachte sehr erfolgreiche Benzodiazepine heraus, beispielsweise Adumbran,
Tavor und Xanax. Mitte der 80-er Jahre waren in Deutschland nicht weniger als
neun Benzodiazepine unter den hundert meistverordneten Medikamenten. Niedergelassene
Allgemeinärzte und Internisten verschrieben jedem dritten Patienten ein
Benzodiazepin. Die Mittel schienen die Lösung für gleich zwei Beschwerden der
Patienten, erinnert sich Jules Angst. O-Ton 6 - Jules Angst: Die hatten zwei Hauptwirkungen in der psychiatrischen Praxis. Das
eine war die Wirkung auf den Schlaf, die Schlaflosigkeit, die Bekämpfung der
Schlafstörungen. Und das andere war die Wirkung auf die Angst. Das war ein
großer Schlager damals, die Benzodiazepine, das war ein Riesenfortschritt. Sprecherin: Benzodiazepine können in Krisen unverzichtbar sein, das bestreiten
auch ihre schärfsten Kritiker nicht. Aber auf die Dauer ist es sinnvoller,
Ängste psychologisch zu behandeln, etwa mit einer Verhaltenstherapie. Dabei
lernen die Patienten, ihre Ängste selbst zu überwinden. Das sieht auch
Psychiater Hans-Jürgen Möller so, der Benzodiazepine durchaus schätzt. Doch
Möller kann nicht immer psychotherapeutisch behandeln. O-Ton 7 - Hans-Jürgen Möller: Viele Menschen, viele Patienten, obwohl sie belästigt werden von
diesen Symptomen, und obwohl sie darunter leiden, lassen sich nicht auf eine
Psychotherapie ein. Die wollen das einfach nicht. Viele wollen auch gar nicht
über ihre Probleme sprechen. Es sind ja häufig dann auch Probleme da,
Partnerschaftsprobleme, Familienprobleme, Probleme am Arbeitsplatz, was auch
immer. Oder alte Probleme aus der Kindheit. Sprecherin: Das war immer das große Versprechen von Valium und seinen Verwandten:
„Ich vertreibe Deine Sorgen und Probleme, ohne dass Du viel tun musst."
Schnell wurden die Mittel gegen alles Mögliche verordnet und aus noch mehr
Gründen genommen. Der Philosoph Jean-Paul Sartre beispielsweise sollte sich
mit Valium das Rauchen abgewöhnen. Seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir
zweigte ein Röhrchen für sich ab und schluckte zusammen mit viel Whisky den
gesamten Inhalt „in der vergeblichen Hoffnung, mich aufzuheitern". Sie
brach zusammen. Auch die Filmschauspielerin Elizabeth Taylor bevorzugte eine
Diät aus Valium und ihrem Lieblings-Drink. Benzodiazepine wurden zum
Mode-Medikament. Selbst eine Figur der Zeichentrickserie „Die Simpsons"
ist nach ihnen süchtig. Doch schnell kamen sie in Verruf als Billiglösung für
die Zumutungen des Lebens. So gingen sie in Romane und in Popsongs ein. Viele
Stars singen von der Faszination und den Gefahren der Mittel. Musik Böhse Onkels: Prinz Valium Ich bringe mich
langsam um. Ich bin Prinz Valium. Ich bin Prinz Valium. Sprecherin: Benzodiazepine werden keineswegs nur von Spezialisten verordnet,
sondern vor allem von Hausärzten. Psychiater wie Hans-Jürgen Möller waren und
sind von dieser Praxis nicht immer angetan: O-Ton 8 - Hans-Jürgen Möller: Die haben Benzodiazepine, sagen wir mal, bei allem verordnet, wo sie
das Gefühl hatten, da sind irgendwie psychische Auslöser mitbeteiligt. Sprecherin: Die größte Patientengruppe waren ältere Frauen und blieben es bis
heute. Viele leiden an einer diffusen Mischung aus Ängsten und Depressionen.
Dem Hausarzt scheinen die Symptome nicht schwer genug, um die Patientinnen
zum Psychiater oder Therapeuten zu schicken, außerdem würden die meisten
sowieso nicht hingehen. Also verordnen viele praktische Ärzte ein
Benzodiazepin, den Seelentröster aus dem Chemielabor. Darf man das? Darüber
gehen die Meinungen auch unter Ärzten auseinander. O-Ton 9 - Hans-Jürgen Möller: Die einen sagen, dahinter stehen natürlich Menschenbilder auch, die
einen sagen: Na ja, der Mensch muss auch ein bisschen Leid aushalten und
vielleicht sogar viel Leid aushalten. Man kann eben nicht alles abpuffern
durch Medikamente, die dann zu einer rosaroten Brille führen. Und es gibt
andere Ärzte, die sagen, es ist unsere Aufgabe, den Patienten so viel Leid
wie möglich zu nehmen. Sprecherin: Viele Ärzte greifen extrem
schnell zum Rezeptblock. Horst Schenk, der im Ausland tätige
Reiseverkehrskaufmann, hatte nie Probleme mit dem Nachschub. O-Ton 10 - Horst Schenk: Und das ging so weiter, auch immer verschrieben
bekommen, immer wenn ich es gerne hätte, wie viel wurde gefragt, 50 oder 100? Sprecherin: Schenks Ärzte hätten wissen müssen, dass
Benzodiazepine abhängig machen können. Doch diese Gefahr wird oft nicht ernst
genommen, kritisiert Rüdiger Holzbach, Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin
der Kliniken Lippstadt und Warstein. O-Ton 11 - Rüdiger Holzbach: Das große Problem bei diesem Thema ist, dass die Abhängigkeit, die
daraus resultieren kann, lange Zeit ignoriert worden ist. Obwohl die ja zu
Beginn der Sechzigerjahre auf dem deutschen Markt eingeführt worden sind und
1961 schon die ersten Berichte erschienen sind über die Probleme der
Abhängigkeit, ist das in den Beipackzetteln der Medikamente erst Mitte der
Achtzigerjahre aufgetaucht. Sprecherin: Die Risiken der Mittel kamen in die Schlagzeilen. Elvis Presley hatte
bei seinem Tod 1977 beachtliche Mengen Valium im Körper, auch in Michael
Jacksons Leiche fanden sich im Jahr 2009 Benzodiazepine. Als Uwe Barschel,
der zurückgetretene Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, 1987 tot in
einer Hotel-Badewanne gefunden wurde, war er schon viele Jahre von Tavor
(Betonung auf Ta) abhängig und konsumierte Höchstdosen. Auch Schenks Ärzte
nahmen die Gefahren der Benzodiazepine nicht ernst - und er selbst ebenfalls
nicht. O-Ton 12 - Horst Schenk: Das liest man ja dann ständig in der Packungsbeilage. Aber so schlimm
wird es dann ja wohl nicht kommen habe ich mir dann immer gedacht. Bis es
eben dazu kam, dass ich noch Tavor dazu nehmen musste, durch eine
Familienkrise - Vater, Eltern gestorben, Vater hat Suizid begangen - und ich
selber bin dann in die verdiente Rente, in den Ruhestand gegangen. Und das
alles in einem Jahr, 2008, und in dieser Zeit bin ich dann in ein großes Loch
gefallen, aus dem ich jetzt versuche, hinaus zu krabbeln. Sprecherin: Schenk wurde abhängig. Was das heißt, erfuhr er, als er plötzlich
ohne die gewohnten Benzodiazepine auskommen musste - ausgerechnet in einer
Klinik. Wie Schenk es schildert, waren die Verantwortlichen dort der Meinung,
seine Probleme seien nur eingebildet und man könne die Benzodiazepine
heimlich weglassen. O-Ton 13 - Horst Schenk: Ohne mir zu sagen, dass ich Placebos einnehme, wurden mir diese dann
abends gegeben zum Schlafen und als Beruhigungsmittel. Die haben bewirkt,
dass ich in der Nacht ein Herzvorhofflimmern bekommen habe, dass ich eine
Panikattacke hatte von abends um 22 Uhr bis morgens um acht Uhr. Sprecherin: Schenk hat die dunkle Seite der Macht der Benzodiazepine
kennengelernt. Sie können abhängig machen, und zwar schnell. Deshalb
empfehlen die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften, sie höchstens
vier Wochen zu geben, allerhöchstens acht. Doch darüber setzen sich zahllose
Ärzte fast routinemäßig hinweg, kritisiert der Lippstädter Suchtmediziner
Holzbach. O-Ton 14 - Rüdiger Holzbach: Wenn man sich das in Studien anschaut, wie häufig wird gegen diese
Leitlinien verstoßen, dann kann man sagen, dass etwa ein Drittel aller
Verschreibungen von Benzodiazepinen Langzeitverschreibungen sind. Das heißt,
in zwei Drittel aller Fälle klappt es und in einem Drittel aller Fälle mündet
es in einen sicher für die Patienten sehr ungünstigen Verlauf. Sprecherin: Ein bis zwei Millionen Deutsche sind von Benzodiazepinen abhängig,
schätzen Experten. Doch viele Ärzte merken nicht, wie Patienten unter ihren
Augen süchtig werden. Denn Benzodiazepin-Abhängigkeit sieht nicht so aus, wie
sie sich Sucht vorstellen. O-Ton 15 - Rüdiger Holzbach: Also das Problem ist, dass jeder Arzt und fast jeder Betroffene weiß,
dass diese Substanzen abhängig machen können. Aber Abhängigkeit wird eben
immer gesehen als dieser Kontrollverlust, die wahllose Einnahme, die
heimliche Einnahme, die höhere Einnahme als vereinbart. Das ist ja auch
sicher richtig, dass das im Verlauf auftreten kann, das betrifft aber nur
einen kleinen Teil der Langzeitkonsumenten. Sprecherin: Die meisten Patienten nehmen brav nur die verordnete Menge, Jahr um
Jahr. Doch dass die Patienten immer die gleiche Menge nehmen, bedeutet nicht,
dass sie auch immer weiter gleich wirkt. Der Körper gewöhnt sich an die
Benzodiazepine wie an jede Droge. Ihre Wirkung wird schwächer. O-Ton 16 - Rüdiger Holzbach: Das heißt, ich sehe diese Menschen dann praktisch dauerhaft im Entzug
und im Entzug treten typischerweise Ängste, Unruhe, Schlafstörungen,
Stimmungsschwankungen auf. Das wird aber dummerweise nicht in Verbindung mit
der Langzeiteinnahme gesehen, sondern in der Regel eher so verstanden, dass
die Grunderkrankung schwerer geworden ist, und führt dann eher zu einer
Dosissteigerung. Oder zur Gabe zusätzlicher, anderer Benzodiazepine. Sprecherin: Besser wäre es, die Benzodiazepine abzusetzen. Doch das ist nicht so leicht,
wie es klingt. Wer die gewohnten Beruhigungspillen einfach weglässt, muss mit
dramatischen Entzugserscheinungen rechnen. Die Angst kann zurückkehren, der
Schlaf ausbleiben oder von Albträumen erfüllt sein. Viele Betroffene
reagieren überempfindlich auf Licht, Töne und Berührungen. Die Muskeln können
auf einmal angespannt oder schlaff sein. Es ist der Preis dafür, dass der
Körper lange künstlich beruhigt wurde. Wer diesen Preis gering halten möchte,
muss extrem vorsichtig sein und die Mittel unter ärztlicher Aufsicht ganz
allmählich absetzen - über Wochen und Monate. Allerdings wollen längst nicht
alle Patienten überhaupt weg von den Tabletten, die ihren Alltag erst
erträglich machen. Was macht der Doktor dann, fragt Psychiatrie-Professor
Möller. O-Ton 17 - Hans-Jürgen Möller: Soll ich einer alten Dame im Alter von 70 Jahren sagen, die seit
Langem darunter leidet, dass ihr Mann so dominant ist und dass er ihren
Bedürfnissen nicht entgegenkommt und so weiter, die aber auch sagt: Da nützt
mir keine Psychotherapie, ich kann weder meinen Mann noch ummodeln, noch kann
ich selber meine Resistenz gegen diese schwierige Situation wesentlich besser
entwickeln und will ich auch gar nicht. Ich will auch gar nicht diese Ehe
gefährden. Möglicherweise emanzipiere ich mich dann so weit, dass es dann
noch im hohen Alter zur Scheidung kommt. Also ich lebe damit und möchte aber
ein bisschen abgepuffert werden und möchte mein Leben dadurch etwas
erträglicher machen. Soll ich der Dame sagen: Nein, das entspricht nicht meinem
Weltbild? Und das ist auch ethisch und moralisch nicht vertretbar. Sprecherin: Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen ist für seine
kritische Haltung gegenüber Arzneimitteln bekannt. Doch sogar er rät Ärzten
zum Kompromiss, wenn Senioren schon lange von ihren
Benzodiazepin-Schlafmitteln abhängig sind. O-Ton 18 - Gerd Glaeske: Begleiten Sie doch bitte die älteren Menschen insofern, dass sie
Ihnen vernünftige Schlafmittel geben, die möglichst kurz wirksam sind, die
nicht über Dauer wirken, die nicht über achtzig, neunzig, hundert Stunden im
Körper verbleiben. Nehmen Sie das, was eben relativ gut, noch von älteren
Menschen vertragen wird, und begleiten Sie den älteren Menschen in seiner
Abhängigkeit. Sprecherin: Nur, umsonst ist der künstliche Seelenfrieden auf Dauer oft nicht zu
haben. Die Beruhigungsmittel dämpfen auch das Denkvermögen und verschlechtern
die Reaktionsfähigkeit. Vor allem ältere Menschen stürzen häufiger und
brechen sich die Hüfte. Deshalb ist Holzbach gegen die laxe Einstellung
vieler Ärzte. O-Ton 19 - Rüdiger Holzbach: Und da haben die Kollegen es eben immer noch nicht verstanden, dass
man also Gedächtnisprobleme kriegt, dass man körperlich unsicher wird, dass
man Schwierigkeiten hat, Probleme zu lösen - das sind alles Effekte, die eben
verstärkt werden. Und deshalb besonders dramatisch, dieser Langzeitgebrauch
bei älteren Menschen. Sprecherin: Auch wenn die Abhängigkeit von Benzodiazepinen für viele Menschen
immer noch ein großes Problem ist - die Kritik an den einstigen Wundermitteln
ist nicht ohne Wirkung geblieben. Heute verordnen die Ärzte weit weniger
Benzodiazepine als früher. Als Beruhigungsmittel wird nur noch ein Drittel
der Menge verordnet, die noch vor zwanzig Jahren verschrieben wurde.
Stattdessen greifen die Mediziner zu Antidepressiva. Noch dramatischer
scheint der Rückgang bei den Schlafmitteln. Sie tauchten binnen eines
Jahrzehnts gut viermal seltener auf Kassenrezepten auf. Doch dieser Rückgang
fand zu einem guten Teil nur in den Kassenstatistiken statt. Die Apothekenumsätze
halbierten sich lediglich. Dieser Widerspruch fiel dem Bremer Pharmakritiker
Gerd Glaeske und seinen Kollegen auf. Dahinter verbirgt sich in ihren Augen
ein Skandal. O-Ton 20 - Gerd Glaeske: Viele Ärzte wissen sehr genau, dass sie Ausweichstrategien nutzen.
Und in der Zwischenzeit eben nicht mehr die Schlafmittel auf den gesetzlichen
Krankenkassenvordrucken, den Rezepten verordnen, sondern dass sie
Privatrezepte nehmen, auch für diejenigen, die in der GKV, der gesetzlichen
Krankenversicherung versichert sind und eigentlich ein Anrecht darauf haben,
notwendige Arzneimittel dort auch verordnet zu bekommen. Sprecherin: Doch wenn ein Arzt viele der gefährlichen Schlafmittel auf
Kassenrezept verordnen würde, könnte das auffallen und er vielleicht Probleme
bekommen. Mit Privatrezepten lässt sich der Missbrauch auf Verordnung bestens
tarnen So hielt es auch der Arzt von Horst Schenk, garniert mit einer
erlogenen Erläuterung. O-Ton 21 - Horst Schenk: Ja, natürlich hat er das begründet: Das bezahlt die
Kasse nicht mehr. Solche Sachen muss man selber bezahlen und die Kasse
bezahlt so was gar nicht. Sprecherin: Die Verschleierung mit Hilfe von Privatrezepten ist aber nur ein Teil
der Erklärung dafür, warum die Krankenkassen heute weniger Schlafmittel mit
Benzodiazepinen bezahlen. Das restliche Minus gleichen Medikamente aus, die
chemisch keine Benzodiazepine sind, aber im Gehirn wirken wie sie. Sie heißen
Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon und werden nach ihrem Anfangsbuchstaben gerne
kurz als Z-Drugs bezeichnet. Als sie in den 80-er Jahren auf den Markt kamen,
versprachen die Hersteller, sie würden nicht so abhängig machen wie die
Benzodiazepine. Das glaubten die Mediziner gern. O-Ton 22 - Gerd Glaeske: Das hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, die Menschen blieben
weiter abhängig. Und es zeigt sich in der Zwischenzeit auch - und darauf
weist auch die europäische Arzneimittelkommission hin - dass diese Z-Drugs
genauso zur Abhängigkeit führen wie alle anderen. Möglicherweise nicht in dem
schnellen Ausmaß. Sprecherin: So geht die Suche nach Medikamenten weiter, die wie Benzodiazepine die
Sorgen nehmen und Schlaf bringen, aber nicht abhängig machen. Ihre Hoffnung
gründen die Forscher darauf, dass sie mittlerweile wissen, wo Benzodiazepine
im Gehirn ihre Wirkung entfalten. Nach ihrer Einführung wurden sie zwar
milliardenfach geschluckt, aber niemand ahnte, was sie im Gehirn eigentlich
tun. Erst Ende der 1970-er Jahre wurde klar: Benzodiazepine greifen an den
sogenannten GABA-Rezeptoren im Gehirn an. Das sind Bindungsstellen für
Botenstoffe, die letztlich dafür sorgen, dass Nervenzellen weniger feuern und
so die Aktivität des Gehirns gedämpft wird. Pünktlich zum Geburtstag von
Valium entdeckten Forscher der Universitäten Stanford und Harvard, dass auch
ein im Gehirn produzierter Stoff an diesen Bindungsstellen angreift und
ähnlich wie Valium epileptische Anfälle unterdrücken kann. Lange war
vergeblich nach einem solchen natürlichen Valium gesucht worden, weil sich so
am besten erklären lässt, warum die Rezeptoren überhaupt da sind und die
Benzodiazepine so einen Angriffspunkt vorfinden. O-Ton 23 - Rüdiger Holzbach: Benzodiazepine oder auch die verwandten sogenannten Z-Drugs dienen
dazu, dass eben diese dämpfende Wirkung verstärkt wird, sodass das natürliche
Beruhigende in unserem Gehirn noch stärker vorhanden ist. Sprecherin: Die Hoffnung der Forscher ruht derzeit darauf, dass die
GABA-Rezeptoren ziemlich komplizierte Gebilde sind. Sie besitzen verschiedene
Untereinheiten, an denen verschiedene Stoffe angreifen können. Die
Benzodiazepine setzen unter anderem an einer Untereinheit mit der Bezeichnung
Alpha-eins an. Ein Team um Christian Lüscher von der Universität Genf
berichtete 2010 in der Wissenschaftszeitschrift „Nature" nach Versuchen
mit Mäusen: Diese Untereinheit ist zumindest mitverantwortlich dafür, dass
Benzodiazepine abhängig machen. Die erwünschten Wirkungen laufen aber über andere Untereinheiten. Gelänge es,
ein Benzodiazepin zu entwickeln, schrieben die Forscher, „das Alpha-eins
ausspart, würde es möglicherweise über kein Suchtpotenzial verfügen".
Andere Experten bezweifeln das. Zu ihnen gehört Chefarzt Holzbach. O-Ton 24 - Rüdiger Holzbach: Es gibt kein Medikament, kein Mittel auf der Welt, was bei seelischen
Nöten so gut hilft wie Suchtmittel. Und was man heute von der biologischen
Forschung weiß, muss man einfach von ausgehen, es wird auch nie eines geben.
Es wird immer in eine Abhängigkeit führen. Man kann sich das ja auch alleine
auf der psychologischen Ebene vorstellen. Eine Substanz, die sagen wir mal
theoretisch gesprochen keine Fähigkeit hätte, diese biologische Abhängigkeit
hervorzurufen wie Alkohol, Benzodiazepine, Opiate, die würde allein schon
psychologisch so hoch bewertet, dass man allein schon eine psychologische
Abhängigkeit von hätte. Sprecherin: Denn wer einmal gelernt hat, wie schnell ein Mittel
die Angst nimmt, wird weiter nach ihm verlangen. Wenn das aber so ist, werden
Valium und seine Verwandten vielleicht nie durch bessere Medikamente ersetzt
werden und weiter in den Apotheken stehen -zum äußerst vorsichtigen Gebrauch. Musik Böhse Onkelz: Prinz Valium Ich bin da und
bin es nicht. Ich verliere mein Gesicht. Ich bringe mich langsam um. Ich bin
Prinz Valium. Ich bin Prinz Valium. Ja. |