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50 Jahre Valium

Ein folgenschwerer ,Sieg' über die Angst
 
(SWR2, 10.7.2013, 8.30 Uhr)

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Musik Böhse Onkelz: Prinz Valium (anschließende Instrumentalpassage unter

nächsten Sprecherintext)

Ich bin da und bin es nicht.

Ich verliere mein Gesicht.

Ich lebe im Delirium.

Ich bin Prinz Valium.

Ich bin Prinz Valium.

 

Sprecherin:

Kaum ein Arzneimittel war jemals so populär. Zusammen mit seinen Verwandten gehörte es jahrelang zu den meistverschriebenen Medikamenten der Welt, möglicherweise war es sogar das am meisten verschriebene. Kaum ein Arzneimittel wurde jemals so verdammt. „Opium für die Massen" nannte es ein prominenter Psychiatrieprofessor. Das führende Wissenschaftsmagazin „Science" prangerte vor allem seinetwegen die „mit Medikamenten überbehandelte Gesellschaft" an. Jeder kennt den Namen des Mittels, das vor fünf Jahrzehnten auf den Markt kam: Valium.

 

Musik Böhse Onkelz: Prinz Valium (anschließende Instrumentalpassage unter

nächsten Sprecherintext)

Ich bin da und bin es nicht.

Ich verliere mein Gesicht.

Ich lebe im Delirium.

Ich bin Prinz Valium.

Ich bin Prinz Valium.

 

Sprecherin:

„Fünfzig Jahre Valium - Folgenschwerer ,Sieg' über die Angst". Eine Sendung von Jochen Paulus.

 

Musik Böhse Onkelz: Prinz Valium Ich bin Prinz Valium, Ich bin Prinz Valium.

 

Sprecherin:

Valium ist nur das prominenteste Mitglied einer ganzen Familie von Medikamenten - den Benzodiazepinen. Sie beruhigen, machen panische und tobende Patienten ansprechbar, entspannen die Muskeln und stecken in etlichen Schlafmitteln. Sie helfen vielen Menschen und sie stürzen viele ins Elend. Oft sind sie erst ein Segen und dann ein Fluch. Meist beginnt alles ganz harmlos, so wie bei dem Reiseverkehrskaufmann, den wir hier Horst Schenk nennen.

 

O-Ton 1 - Horst Schenk:

Ich habe im Ausland gearbeitet, für eine große Firma im Ausland gearbeitet und der Stress begann eben 85, Schlafstörungen. Und daraufhin habe ich mich bei meinem Hausarzt gemeldet in Deutschland und der verschrieb mir dann sofort Rohypnol, was natürlich eines der stärksten Mittel ist, Rohypnol, allerdings nur ein Milligramm. Und an diesem einen Milligramm pro Nacht bin ich hängen geblieben bis heute.

 

Sprecherin:

Das Benzodiazepin half - lange Jahre.

O-Ton 2 - Horst Schenk:

Ich konnte schlafen, ich war eigentlich auch ausgeglichen, ich konnte meine Arbeit hundertprozentig erledigen. Und das war für mich das Ausschlaggebende: hundertprozentig, mehr als hundertprozentig da zu sein.

 

Sprecherin:

Heute gehören Psychopharmaka - also Medikamente, die vor allem auf die Psyche wirken - in jeder Apotheke zu den Bestsellern. Ärzte verschreiben sie routinemäßig. Gegen Ängste. Gegen Wahnvorstellungen. Gegen Depressionen. Gegen Unaufmerksamkeit. Doch noch Mitte des 20. Jahrhunderts war das anders. Es gab noch keine „echten" Psychopharmaka, nicht einmal in den psychiatrischen Kliniken. Jules Angst, emeritierter, aber weiter forschender Professor der Universität Zürich, hat diese Zeiten noch miterlebt.

 

O-Ton 3 - Jules Angst:

Ich kam 1951 in die Psychiatrie, als es noch keine modernen Medikamente gab. Und das war damals noch wirklich eine gefährliche Sache in der Klinik zu arbeiten - für beide Seiten. Für die Patienten, die wurden verletzt durch andere Patienten, wie auch fürs Personal. Es gab Statistiken über die Verletzungen des Personals. Und es wurden keine Gabeln und keine Messer gegeben zum Essen, weil das zu gefährlich war. Nur so als kleines Zeichen, wie die Atmosphäre war. Und man war eingesperrt und so weiter.

 

Sprecherin:

Psychische Probleme wurden lange mit Barbituraten bekämpft, die vor mehr als einem Jahrhundert herauskamen, im Jahr 1903. Heute zählen sie zu den streng regulierten Betäubungsmitteln, weil sie abhängig machen. Doch zunächst erfreuten sie sich großer Beliebtheit. Virginia Woolf nahm sie gegen ihre Depressionen. Sie wirken auch gegen Ängste, aber vor allem sind sie starke Schlafmittel. Als Marcel Proust einmal wütend war wegen seiner Schlaflosigkeit, nahm er eine ganze Packung Veronal, dazu noch ein anderes Barbiturat und Opium. „Ich schlief nicht, sondern litt schrecklich", notierte er. Dabei hatte er noch Glück. Schon eine mäßige Überdosis kann zum Tod führen, weshalb Barbiturate als klassische Suizidmittel galten. In den Kliniken waren hilflose Psychiater noch auf eine andere Einsatzmöglichkeit für die Barbiturate gekommen.

 

O-Ton 4 - Jules Angst:

Dann gab es noch die sogenannten Schlafkuren, wo man Schwerst-Erregte während fünf oder acht Tagen einfach in einen Tiefschlaf versetzte, um sie quasi zu beruhigen. Man hat damals noch gedacht, Schlaf dieser Art ist gesund. Trägt zur Gesundung bei.

 

Sprecherin:

Erst im Verlauf der 1950-er Jahre kamen schnell nacheinander die ersten echten Psychopharmaka auf den Markt. Chlorpromazin gegen Psychosen, Lithium (sprich: Li-ti-jum - mit „t") gegen Manien, verschiedene Antidepressiva. Sie brachten oft beträchtliche Risiken mit sich und wurden zur Ruhigstellung von Patienten missbraucht. Aber sie wirkten. 1955 kam dann der Vorläufer der Benzodiazepine heraus: Miltown [sprich: Miltaun]. In den USA wurde Miltown praktisch sofort zum Shootingstar unter den Arzneimitteln. Binnen zehn Jahren wurden 14 Milliarden Tabletten abgesetzt. Apotheken hängten Schilder ins Schaufenster: „Miltown ausverkauft, morgen mehr!" Die besten Kunden waren Menschen, die von Ängsten geplagt wurden oder auch nur von schweren Alltagssorgen. Miltown war das, was die Rolling Stones später sarkastisch besangen als „Mutters kleine Helfer" - Mother's Little Helper -, eine Pille, die das Hausfrauen-Dasein samt der nervigen Kinder erträglicher zu machen schien.

 

Musik The Rolling Stones: Mother's Little Helper (Instrumentalpasagen vielleicht schon unter Schluss von letztem Sprecherintext und Anfang vom nächsten) "Things are different today" I hear ev'ry mother say.

Cooking fresh food for a husband's just a drag. So she buys an instant cake and she burns her frozen steak. And goes running for the shelter of a mother's little helper. And to help her on her way, get her through her busy day.

 

Sprecherin:

Der Pharma-Riese Hoffmann-La-Roche wollte ebenfalls vom Boom profitieren. Er gab Leo Sternbach den Auftrag, ein noch wirksameres Beruhigungsmittel zu schaffen. Die Firma hatte den jüdischen Chemiker in ihr US-Labor nach New Jersey geschickt, um ihn vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Sternbach experimentierte mit Stoffen, aus denen er Jahre vorher in Krakau erfolglos Farbstoffe hatte synthetisieren wollen. Doch auch als Beruhigungsmittel wirkte keine der neu erzeugten Varianten, die er im Tierversuch testen ließ. Sternbachs Team gab auf. Aber beim Aufräumen fanden die Forscher eine zwei Jahre zuvor hergestellte Variante, die sie wegen anderer Arbeit nicht hatten testen lassen. Nur um die Sache abzuhaken, schickte Sternbach sie zum Test an Mäusen. Das Ergebnis kam schnell. Die Substanz wirkte wesentlich stärker als Miltown. Schon zweieinhalb Jahre später, im Jahr 1960, kam sie unter dem Namen Librium auf den Markt - als erstes Benzodiazepin.

 

Musik The Rolling Stones: Mother's Little Helper Doctor please, some more of these. Outside the door, she took four more. What a drag it is getting old.

 

Sprecherin:

Die Benzodiazepine haben ihren Namen nach ihrer chemischen Struktur. Sie enthalten einen Benzolring - also ein Gebilde mit sechs Kohlenstoff-Atomen in Form einer Bienenwabe. Dazu kommt ein zweiter Ring, bei dem aber zwei Kohlenstoffatome durch Stickstoffatome ersetzt sind. Deshalb ist es ein Diazepin-Ring. Sternbach bastelte weiter an solchen Benzodiazepin-Molekülen herum, indem er die an den beiden Ringen hängenden Komponenten veränderte. Schon 1963, also vor genau fünfzig Jahren, brachte seine Firma das nächste Präparat heraus: Valium. Es wirkte noch besser als Librium. Die neuen Präparate traten nicht nur gegen das ähnlich wirkende Miltown an, sondern auch gegen die gefährlichen Barbiturate. Die Sieger standen schnell fest, weiß Hans-Jürgen Möller, bis 2012 Psychiatrieprofessor der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor ihrer psychiatrischen Klinik. Er hat ein Buch über die Benzodiazepine mit verfasst.

 

O-Ton 5 - Hans-Jürgen Möller:

Die Benzodiazepine haben dann eigentlich diesen alten Präparaten, insbesondere den ganz alten, völlig das Wasser abgegraben, weil sie eben sehr leicht zu handhabende Medikamente sind. Weil sie keine großen Gefahren der Überdosierung haben, insbesondere nicht der tödlichen Überdosierung und weil sie vom Patienten selber als sehr angenehm erlebt werden.

 

Sprecherin:

Schon Ende der 60-er Jahre war Valium in der ganzen westlichen Welt das meistverkaufte Psychopharmakon. Zu seinen besten Zeiten nahm Roche damit 600 Millionen Dollar jährlich ein. Sternbach und seine Leute synthetisierten immer mehr Benzodiazepine, insgesamt über tausend. Etliche wurden ebenfalls zu Bestsellern, etwa Lexotanil, Dalmane und Rohypnol. Auch die Konkurrenz brachte sehr erfolgreiche Benzodiazepine heraus, beispielsweise Adumbran, Tavor und Xanax. Mitte der 80-er Jahre waren in Deutschland nicht weniger als neun Benzodiazepine unter den hundert meistverordneten Medikamenten. Niedergelassene Allgemeinärzte und Internisten verschrieben jedem dritten Patienten ein Benzodiazepin. Die Mittel schienen die Lösung für gleich zwei Beschwerden der Patienten, erinnert sich Jules Angst.

 

O-Ton 6 - Jules Angst:

Die hatten zwei Hauptwirkungen in der psychiatrischen Praxis. Das eine war die Wirkung auf den Schlaf, die Schlaflosigkeit, die Bekämpfung der Schlafstörungen. Und das andere war die Wirkung auf die Angst. Das war ein großer Schlager damals, die Benzodiazepine, das war ein Riesenfortschritt.

 

Sprecherin:

Benzodiazepine können in Krisen unverzichtbar sein, das bestreiten auch ihre schärfsten Kritiker nicht. Aber auf die Dauer ist es sinnvoller, Ängste psychologisch zu behandeln, etwa mit einer Verhaltenstherapie. Dabei lernen die Patienten, ihre Ängste selbst zu überwinden. Das sieht auch Psychiater Hans-Jürgen Möller so, der Benzodiazepine durchaus schätzt. Doch Möller kann nicht immer psychotherapeutisch behandeln.

 

O-Ton 7 - Hans-Jürgen Möller:

Viele Menschen, viele Patienten, obwohl sie belästigt werden von diesen Symptomen, und obwohl sie darunter leiden, lassen sich nicht auf eine Psychotherapie ein. Die wollen das einfach nicht. Viele wollen auch gar nicht über ihre Probleme sprechen. Es sind ja häufig dann auch Probleme da, Partnerschaftsprobleme, Familienprobleme, Probleme am Arbeitsplatz, was auch immer. Oder alte Probleme aus der Kindheit.

 

Sprecherin:

Das war immer das große Versprechen von Valium und seinen Verwandten: „Ich vertreibe Deine Sorgen und Probleme, ohne dass Du viel tun musst." Schnell wurden die Mittel gegen alles Mögliche verordnet und aus noch mehr Gründen genommen. Der Philosoph Jean-Paul Sartre beispielsweise sollte sich mit Valium das Rauchen abgewöhnen. Seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir zweigte ein Röhrchen für sich ab und schluckte zusammen mit viel Whisky den gesamten Inhalt „in der vergeblichen Hoffnung, mich aufzuheitern". Sie brach zusammen. Auch die Filmschauspielerin Elizabeth Taylor bevorzugte eine Diät aus Valium und ihrem Lieblings-Drink. Benzodiazepine wurden zum Mode-Medikament. Selbst eine Figur der Zeichentrickserie „Die Simpsons" ist nach ihnen süchtig. Doch schnell kamen sie in Verruf als Billiglösung für die Zumutungen des Lebens. So gingen sie in Romane und in Popsongs ein. Viele Stars singen von der Faszination und den Gefahren der Mittel.

 

Musik Böhse Onkels: Prinz Valium Ich bringe mich langsam um. Ich bin Prinz Valium. Ich bin Prinz Valium.

 

Sprecherin:

Benzodiazepine werden keineswegs nur von Spezialisten verordnet, sondern vor allem von Hausärzten. Psychiater wie Hans-Jürgen Möller waren und sind von dieser Praxis nicht immer angetan:

 

O-Ton 8 - Hans-Jürgen Möller:

Die haben Benzodiazepine, sagen wir mal, bei allem verordnet, wo sie das Gefühl hatten, da sind irgendwie psychische Auslöser mitbeteiligt.

 

Sprecherin:

Die größte Patientengruppe waren ältere Frauen und blieben es bis heute. Viele leiden an einer diffusen Mischung aus Ängsten und Depressionen. Dem Hausarzt scheinen die Symptome nicht schwer genug, um die Patientinnen zum Psychiater oder Therapeuten zu schicken, außerdem würden die meisten sowieso nicht hingehen. Also verordnen viele praktische Ärzte ein Benzodiazepin, den Seelentröster aus dem Chemielabor. Darf man das? Darüber gehen die Meinungen auch unter Ärzten auseinander.

 

O-Ton 9 - Hans-Jürgen Möller:

Die einen sagen, dahinter stehen natürlich Menschenbilder auch, die einen sagen: Na ja, der Mensch muss auch ein bisschen Leid aushalten und vielleicht sogar viel Leid aushalten. Man kann eben nicht alles abpuffern durch Medikamente, die dann zu einer rosaroten Brille führen. Und es gibt andere Ärzte, die sagen, es ist unsere Aufgabe, den Patienten so viel Leid wie möglich zu nehmen.

 

Sprecherin:

Viele Ärzte greifen extrem schnell zum Rezeptblock. Horst Schenk, der im Ausland tätige Reiseverkehrskaufmann, hatte nie Probleme mit dem Nachschub.

 

O-Ton 10 - Horst Schenk:

Und das ging so weiter, auch immer verschrieben bekommen, immer wenn ich es gerne hätte, wie viel wurde gefragt, 50 oder 100?

 

Sprecherin:

Schenks Ärzte hätten wissen müssen, dass Benzodiazepine abhängig machen können. Doch diese Gefahr wird oft nicht ernst genommen, kritisiert Rüdiger Holzbach, Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin der Kliniken Lippstadt und Warstein.

 

O-Ton 11 - Rüdiger Holzbach:

Das große Problem bei diesem Thema ist, dass die Abhängigkeit, die daraus resultieren kann, lange Zeit ignoriert worden ist. Obwohl die ja zu Beginn der Sechzigerjahre auf dem deutschen Markt eingeführt worden sind und 1961 schon die ersten Berichte erschienen sind über die Probleme der Abhängigkeit, ist das in den Beipackzetteln der Medikamente erst Mitte der Achtzigerjahre aufgetaucht.

 

Sprecherin:

Die Risiken der Mittel kamen in die Schlagzeilen. Elvis Presley hatte bei seinem Tod 1977 beachtliche Mengen Valium im Körper, auch in Michael Jacksons Leiche fanden sich im Jahr 2009 Benzodiazepine. Als Uwe Barschel, der zurückgetretene Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, 1987 tot in einer Hotel-Badewanne gefunden wurde, war er schon viele Jahre von Tavor (Betonung auf Ta) abhängig und konsumierte Höchstdosen. Auch Schenks Ärzte nahmen die Gefahren der Benzodiazepine nicht ernst - und er selbst ebenfalls nicht.

 

O-Ton 12 - Horst Schenk:

Das liest man ja dann ständig in der Packungsbeilage. Aber so schlimm wird es dann ja wohl nicht kommen habe ich mir dann immer gedacht. Bis es eben dazu kam, dass ich noch Tavor dazu nehmen musste, durch eine Familienkrise - Vater, Eltern gestorben, Vater hat Suizid begangen - und ich selber bin dann in die verdiente Rente, in den Ruhestand gegangen. Und das alles in einem Jahr, 2008, und in dieser Zeit bin ich dann in ein großes Loch gefallen, aus dem ich jetzt versuche, hinaus zu krabbeln.

 

Sprecherin:

Schenk wurde abhängig. Was das heißt, erfuhr er, als er plötzlich ohne die gewohnten Benzodiazepine auskommen musste - ausgerechnet in einer Klinik. Wie Schenk es schildert, waren die Verantwortlichen dort der Meinung, seine Probleme seien nur eingebildet und man könne die Benzodiazepine heimlich weglassen.

 

O-Ton 13 - Horst Schenk:

Ohne mir zu sagen, dass ich Placebos einnehme, wurden mir diese dann abends gegeben zum Schlafen und als Beruhigungsmittel. Die haben bewirkt, dass ich in der Nacht ein Herzvorhofflimmern bekommen habe, dass ich eine Panikattacke hatte von abends um 22 Uhr bis morgens um acht Uhr.

 

Sprecherin:

Schenk hat die dunkle Seite der Macht der Benzodiazepine kennengelernt. Sie können abhängig machen, und zwar schnell. Deshalb empfehlen die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften, sie höchstens vier Wochen zu geben, allerhöchstens acht. Doch darüber setzen sich zahllose Ärzte fast routinemäßig hinweg, kritisiert der Lippstädter Suchtmediziner Holzbach.

 

O-Ton 14 - Rüdiger Holzbach:

Wenn man sich das in Studien anschaut, wie häufig wird gegen diese Leitlinien verstoßen, dann kann man sagen, dass etwa ein Drittel aller Verschreibungen von Benzodiazepinen Langzeitverschreibungen sind. Das heißt, in zwei Drittel aller Fälle klappt es und in einem Drittel aller Fälle mündet es in einen sicher für die Patienten sehr ungünstigen Verlauf.

 

Sprecherin:

Ein bis zwei Millionen Deutsche sind von Benzodiazepinen abhängig, schätzen Experten. Doch viele Ärzte merken nicht, wie Patienten unter ihren Augen süchtig werden. Denn Benzodiazepin-Abhängigkeit sieht nicht so aus, wie sie sich Sucht vorstellen.

 

O-Ton 15 - Rüdiger Holzbach:

Also das Problem ist, dass jeder Arzt und fast jeder Betroffene weiß, dass diese Substanzen abhängig machen können. Aber Abhängigkeit wird eben immer gesehen als dieser Kontrollverlust, die wahllose Einnahme, die heimliche Einnahme, die höhere Einnahme als vereinbart. Das ist ja auch sicher richtig, dass das im Verlauf auftreten kann, das betrifft aber nur einen kleinen Teil der Langzeitkonsumenten.

 

Sprecherin:

Die meisten Patienten nehmen brav nur die verordnete Menge, Jahr um Jahr. Doch dass die Patienten immer die gleiche Menge nehmen, bedeutet nicht, dass sie auch immer weiter gleich wirkt. Der Körper gewöhnt sich an die Benzodiazepine wie an jede Droge. Ihre Wirkung wird schwächer.

 

O-Ton 16 - Rüdiger Holzbach:

Das heißt, ich sehe diese Menschen dann praktisch dauerhaft im Entzug und im Entzug treten typischerweise Ängste, Unruhe, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen auf. Das wird aber dummerweise nicht in Verbindung mit der Langzeiteinnahme gesehen, sondern in der Regel eher so verstanden, dass die Grunderkrankung schwerer geworden ist, und führt dann eher zu einer Dosissteigerung. Oder zur Gabe zusätzlicher, anderer Benzodiazepine.

 

Sprecherin:

Besser wäre es, die Benzodiazepine abzusetzen. Doch das ist nicht so leicht, wie es klingt. Wer die gewohnten Beruhigungspillen einfach weglässt, muss mit dramatischen Entzugserscheinungen rechnen. Die Angst kann zurückkehren, der Schlaf ausbleiben oder von Albträumen erfüllt sein. Viele Betroffene reagieren überempfindlich auf Licht, Töne und Berührungen. Die Muskeln können auf einmal angespannt oder schlaff sein. Es ist der Preis dafür, dass der Körper lange künstlich beruhigt wurde. Wer diesen Preis gering halten möchte, muss extrem vorsichtig sein und die Mittel unter ärztlicher Aufsicht ganz allmählich absetzen - über Wochen und Monate. Allerdings wollen längst nicht alle Patienten überhaupt weg von den Tabletten, die ihren Alltag erst erträglich machen. Was macht der Doktor dann, fragt Psychiatrie-Professor Möller.

 

O-Ton 17 - Hans-Jürgen Möller:

Soll ich einer alten Dame im Alter von 70 Jahren sagen, die seit Langem darunter leidet, dass ihr Mann so dominant ist und dass er ihren Bedürfnissen nicht entgegenkommt und so weiter, die aber auch sagt: Da nützt mir keine Psychotherapie, ich kann weder meinen Mann noch ummodeln, noch kann ich selber meine Resistenz gegen diese schwierige Situation wesentlich besser entwickeln und will ich auch gar nicht. Ich will auch gar nicht diese Ehe gefährden. Möglicherweise emanzipiere ich mich dann so weit, dass es dann noch im hohen Alter zur Scheidung kommt. Also ich lebe damit und möchte aber ein bisschen abgepuffert werden und möchte mein Leben dadurch etwas erträglicher machen. Soll ich der Dame sagen: Nein, das entspricht nicht meinem Weltbild? Und das ist auch ethisch und moralisch nicht vertretbar.

 

Sprecherin:

Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen ist für seine kritische Haltung gegenüber Arzneimitteln bekannt. Doch sogar er rät Ärzten zum Kompromiss, wenn Senioren schon lange von ihren Benzodiazepin-Schlafmitteln abhängig sind.

 

O-Ton 18 - Gerd Glaeske:

Begleiten Sie doch bitte die älteren Menschen insofern, dass sie Ihnen vernünftige Schlafmittel geben, die möglichst kurz wirksam sind, die nicht über Dauer wirken, die nicht über achtzig, neunzig, hundert Stunden im Körper verbleiben. Nehmen Sie das, was eben relativ gut, noch von älteren Menschen vertragen wird, und begleiten Sie den älteren Menschen in seiner Abhängigkeit.

 

Sprecherin:

Nur, umsonst ist der künstliche Seelenfrieden auf Dauer oft nicht zu haben. Die Beruhigungsmittel dämpfen auch das Denkvermögen und verschlechtern die Reaktionsfähigkeit. Vor allem ältere Menschen stürzen häufiger und brechen sich die Hüfte. Deshalb ist Holzbach gegen die laxe Einstellung vieler Ärzte.

 

O-Ton 19 - Rüdiger Holzbach:

Und da haben die Kollegen es eben immer noch nicht verstanden, dass man also Gedächtnisprobleme kriegt, dass man körperlich unsicher wird, dass man Schwierigkeiten hat, Probleme zu lösen - das sind alles Effekte, die eben verstärkt werden. Und deshalb besonders dramatisch, dieser Langzeitgebrauch bei älteren Menschen.

 

Sprecherin:

Auch wenn die Abhängigkeit von Benzodiazepinen für viele Menschen immer noch ein großes Problem ist - die Kritik an den einstigen Wundermitteln ist nicht ohne Wirkung geblieben. Heute verordnen die Ärzte weit weniger Benzodiazepine als früher. Als Beruhigungsmittel wird nur noch ein Drittel der Menge verordnet, die noch vor zwanzig Jahren verschrieben wurde. Stattdessen greifen die Mediziner zu Antidepressiva. Noch dramatischer scheint der Rückgang bei den Schlafmitteln. Sie tauchten binnen eines Jahrzehnts gut viermal seltener auf Kassenrezepten auf. Doch dieser Rückgang fand zu einem guten Teil nur in den Kassenstatistiken statt. Die Apothekenumsätze halbierten sich lediglich. Dieser Widerspruch fiel dem Bremer Pharmakritiker Gerd Glaeske und seinen Kollegen auf. Dahinter verbirgt sich in ihren Augen ein Skandal.

 

O-Ton 20 - Gerd Glaeske:

Viele Ärzte wissen sehr genau, dass sie Ausweichstrategien nutzen. Und in der Zwischenzeit eben nicht mehr die Schlafmittel auf den gesetzlichen Krankenkassenvordrucken, den Rezepten verordnen, sondern dass sie Privatrezepte nehmen, auch für diejenigen, die in der GKV, der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind und eigentlich ein Anrecht darauf haben, notwendige Arzneimittel dort auch verordnet zu bekommen.

 

Sprecherin:

Doch wenn ein Arzt viele der gefährlichen Schlafmittel auf Kassenrezept verordnen würde, könnte das auffallen und er vielleicht Probleme bekommen. Mit Privatrezepten lässt sich der Missbrauch auf Verordnung bestens tarnen So hielt es auch der Arzt von Horst Schenk, garniert mit einer erlogenen Erläuterung.

 

O-Ton 21 - Horst Schenk:

Ja, natürlich hat er das begründet: Das bezahlt die Kasse nicht mehr. Solche Sachen muss man selber bezahlen und die Kasse bezahlt so was gar nicht.

 

Sprecherin:

Die Verschleierung mit Hilfe von Privatrezepten ist aber nur ein Teil der Erklärung dafür, warum die Krankenkassen heute weniger Schlafmittel mit Benzodiazepinen bezahlen. Das restliche Minus gleichen Medikamente aus, die chemisch keine Benzodiazepine sind, aber im Gehirn wirken wie sie. Sie heißen Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon und werden nach ihrem Anfangsbuchstaben gerne kurz als Z-Drugs bezeichnet. Als sie in den 80-er Jahren auf den Markt kamen, versprachen die Hersteller, sie würden nicht so abhängig machen wie die Benzodiazepine. Das glaubten die Mediziner gern.

 

O-Ton 22 - Gerd Glaeske:

Das hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, die Menschen blieben weiter abhängig. Und es zeigt sich in der Zwischenzeit auch - und darauf weist auch die europäische Arzneimittelkommission hin - dass diese Z-Drugs genauso zur Abhängigkeit führen wie alle anderen. Möglicherweise nicht in dem schnellen Ausmaß.

 

Sprecherin:

So geht die Suche nach Medikamenten weiter, die wie Benzodiazepine die Sorgen nehmen und Schlaf bringen, aber nicht abhängig machen. Ihre Hoffnung gründen die Forscher darauf, dass sie mittlerweile wissen, wo Benzodiazepine im Gehirn ihre Wirkung entfalten. Nach ihrer Einführung wurden sie zwar milliardenfach geschluckt, aber niemand ahnte, was sie im Gehirn eigentlich tun. Erst Ende der 1970-er Jahre wurde klar: Benzodiazepine greifen an den sogenannten GABA-Rezeptoren im Gehirn an. Das sind Bindungsstellen für Botenstoffe, die letztlich dafür sorgen, dass Nervenzellen weniger feuern und so die Aktivität des Gehirns gedämpft wird. Pünktlich zum Geburtstag von Valium entdeckten Forscher der Universitäten Stanford und Harvard, dass auch ein im Gehirn produzierter Stoff an diesen Bindungsstellen angreift und ähnlich wie Valium epileptische Anfälle unterdrücken kann. Lange war vergeblich nach einem solchen natürlichen Valium gesucht worden, weil sich so am besten erklären lässt, warum die Rezeptoren überhaupt da sind und die Benzodiazepine so einen Angriffspunkt vorfinden.

 

O-Ton 23 - Rüdiger Holzbach:

Benzodiazepine oder auch die verwandten sogenannten Z-Drugs dienen dazu, dass eben diese dämpfende Wirkung verstärkt wird, sodass das natürliche Beruhigende in unserem Gehirn noch stärker vorhanden ist.

 

Sprecherin:

Die Hoffnung der Forscher ruht derzeit darauf, dass die GABA-Rezeptoren ziemlich komplizierte Gebilde sind. Sie besitzen verschiedene Untereinheiten, an denen verschiedene Stoffe angreifen können. Die Benzodiazepine setzen unter anderem an einer Untereinheit mit der Bezeichnung Alpha-eins an. Ein Team um Christian Lüscher von der Universität Genf berichtete 2010 in der Wissenschaftszeitschrift „Nature" nach Versuchen mit Mäusen: Diese Untereinheit ist zumindest mitverantwortlich dafür, dass Benzodiazepine abhängig machen. Die erwünschten Wirkungen laufen aber über andere Untereinheiten. Gelänge es, ein Benzodiazepin zu entwickeln, schrieben die Forscher, „das Alpha-eins ausspart, würde es möglicherweise über kein Suchtpotenzial verfügen". Andere Experten bezweifeln das. Zu ihnen gehört Chefarzt Holzbach.

 

O-Ton 24 - Rüdiger Holzbach:

Es gibt kein Medikament, kein Mittel auf der Welt, was bei seelischen Nöten so gut hilft wie Suchtmittel. Und was man heute von der biologischen Forschung weiß, muss man einfach von ausgehen, es wird auch nie eines geben. Es wird immer in eine Abhängigkeit führen. Man kann sich das ja auch alleine auf der psychologischen Ebene vorstellen. Eine Substanz, die sagen wir mal theoretisch gesprochen keine Fähigkeit hätte, diese biologische Abhängigkeit hervorzurufen wie Alkohol, Benzodiazepine, Opiate, die würde allein schon psychologisch so hoch bewertet, dass man allein schon eine psychologische Abhängigkeit von hätte.

 

Sprecherin:

Denn wer einmal gelernt hat, wie schnell ein Mittel die Angst nimmt, wird weiter nach ihm verlangen. Wenn das aber so ist, werden Valium und seine Verwandten vielleicht nie durch bessere Medikamente ersetzt werden und weiter in den Apotheken stehen -zum äußerst vorsichtigen Gebrauch.

 

Musik Böhse Onkelz: Prinz Valium Ich bin da und bin es nicht. Ich verliere mein Gesicht. Ich bringe mich langsam um. Ich bin Prinz Valium. Ich bin Prinz Valium. Ja.

 


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