Das Geheimnis des Lesens Wie wir lernen, Texte zu
entschlüsseln |
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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2
Wissen - Manuskriptdienst “
Das Geheimnis des
Lesens Wie wir lernen, Texte zu entschlüsseln ” Autor:
Jochen Paulus Redaktion:
Anja Brockert Regie:
Tobias Krebs Sendung:
Samstag, 04. April 2009, 8.30 Uhr, SWR 2 ___________________________________________________________________ Bitte
beachten Sie: Das
Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung
des Urhebers bzw. des SWR. ___________________________________________________________________ Musik /Atmo Buchstaben-Wispern,
Plappern O-Ton
1 (Erstklässlerin liest): Nach circa 9 Sekunden leiser blenden
und unter die Ansage legen Reimar reiten ... Ansage: Das Geheimnis des Lesens. Wie wir
lernen, Texte zu entschlüsseln. Eine Sendung von Jochen Paulus. Erstklässlerin liest, wieder hoch blenden O-Ton 1 Reimar
reiten einen alten Essel. [Vater: Wie heißt das richtig?] Essel. [Vater:
Mmh.] Esel. Esel. Heißt das da Esel? (gerufen) Erzählerin: Die
sechsjährige Carla liest ihrem Vater auf dem Sofa im Kinderzimmer am Abend
etwas vor. Dafür, dass sie erst ein paar Monate zur Schule geht, klappt das
schon ganz gut. Aber wie man deutlich hört, ist Lesen zu Beginn alles andere
als einfach. Später können ältere Kinder und Erwachsene meist mühelos und
fließend lesen - wenn es sein muss, sogar schwere Romane. Aber wie schaffen
wir das eigentlich? Die Frage lässt keine großen Überraschungen vermuten.
Lesen ist eine Kulturtechnik - Menschen haben sie erfunden. Wir sollten
wissen, wie es geht. Doch wenn wir lesen, ist uns nicht klar, was wir da
eigentlich genau machen. Das behauptet jedenfalls einer der führenden
Leseforscher der Welt, der Psychologieprofessor Max Coltheart vom Macquarie
Centre for Cognitive Science im australischen Sydney. O-Ton 2
(Coltheart): Reading does
seem simple because we are so good at it .
on skilled performance. Zitator
(voice over): Lesen
scheint einfach zu sein, weil wir es so gut beherrschen. Aber wenn ich
jemanden fragen würde: Sie haben jetzt gerade 600 Millisekunden gebraucht, um
ein Wort vorzulesen, was ist in dieser Zeit passiert? - dann haben die Leute
keine Ahnung. Was wir wirklich gut können, ist dem Denken nicht zugänglich. Erzählerin: Lesen
ist ein Prozess, der aus sehr vielen Stufen besteht. Bis wir die Bedeutung
eines Textes verstehen, muss außerordentlich viel passieren. Atmo Wispern / Plappern Erzählerin: Natürlich
beginnt alles mit dem Betrachten des Textes. Der Psychologieprofessor und
Leseforscher Reinhold Kliegl von der Universität Potsdam: O-Ton
3 (Kliegl): Und
die Information, die damit reingeht, das ist so die traditionelle Hierarchie,
die aber so in dieser Reinform sicher nicht stimmt, ist, dass man zunächst
die visuellen Merkmale, also die Kanten, Bögen der Buchstaben und so
analysiert und daraus dann die Buchstaben zusammenbaut. Erzählerin: Aus
den Buchstaben entstehen im Kopf Worte, dann Sätze, ein Sinnzusammenhang und
manchmal schließlich eine ganze Welt. Das klappt nur, weil wir wissen, was
Worte bedeuten, wie die Grammatik unserer Sprache funktioniert, und weil wir
das Gelesene in Verbindung bringen können mit dem, was wir schon wissen. [O-Ton 4 (Kliegl): Also
es ist Gedächtnis dabei, logisches Denken dabei, man inferiert Dinge, die
nicht explizit im Text sind - das berühmte „zwischen den Zeilen lesen".
Sie sehen, es gibt eigentlich nichts, was man mit geistigen Aktivitäten in
Verbindung bringt, was man nicht irgendwo auch im Lesen wieder finden würde.] Erzählerin: Die
Kunst des Lesens steckt dabei voller Überraschungen. Wir können ein kurzes
Wort, etwa „am", genauso schnell erkennen wie ein langes, etwa
„Amerika". Wie ist das möglich? Menschen mit einer bestimmten
Gehirnschädigung lesen ein kompliziertes Wort wie Rhinozeros problemlos,
scheitern aber an einem einfachen, wenn auch unsinnigen wie „rin". Warum
ist das so? Und was verrät es uns darüber, wie wir lesen? Eine Möglichkeit,
das Lesen zu lernen, ist das laute Buchstabieren. O-Ton
5 (Erstklässlerin liest): (Mühsam zusammengesetzt:) Alle
Ritter reiten mit einem Laterne. (Normal gesprochen:) Laterne? (glucksendes Lachen) Erzählerin: Kinder
buchstabieren lange so. Sie lesen sich selbst langsam die Worte vor und
erkennen sie erst dann. Diese Methode bietet einen enormen Vorteil, sagt der
australische Leseforscher Max Coltheart. O-Ton 6
(Coltheart): The most important fact about learning ... is almost
adult. Zitator
(voice over): Die
wichtigste Erkenntnis über das Lesen lernen ist, dass ein siebenjähriges Kind
vielleicht 150 Worte durch Sehen erkennen kann, aber mindestens 10.000 durch
Hören. Denn in diesem Alter ist der Hör-Wortschatz fast so groß wie bei
Erwachsenen. Erzählerin: Für Max Coltheart ist das mühsame,
stockende Buchstabieren daher der Schlüssel zum Erfolg. O-Ton 7
(Coltheart): So many, many words they see . they know how to sound out. Zitator (voice over): Sie
würden also viele, viele Worte, die sie auf der Seite sehen, erkennen, wenn
sie sie hören. Aber sie haben sie nie zuvor gesehen. Deshalb ist das
Buchstabieren entscheidend. Das Kind macht „b", „au", „m"
[bitte als einzelne Laute sprechen] und hört sich selbst „Baum" sagen.
Und es weiß, das Wort lautet Baum. So können Kinder sich selbst Lesen
beibringen. Deshalb spricht man von der Selbst-Lern-Hypothese. Die Methode
ist sehr wirkungsvoll - wenn die Kinder wissen, wie man buchstabiert. Erzählerin: Kinder
bringen sich das Lesen damit gewissermaßen selber bei, die Lehrer schaffen
lediglich die Voraussetzungen dafür. Denn auch sie wissen nicht genau, wie
Lesen funktioniert. Nicht alle Ideen, die die Pädagogen im Lauf der Zeit
hatten, leuchten heute auch den Leseforschern ein. Besonders missfällt ihnen
die Idee, auf die Phonologie zu verzichten, also den Kindern nicht
beizubringen, welche Laute zu einzelnen Buchstaben gehören. Das war der
Ansatz der vor allem in den 1960er-Jahren propagierten „Ganzheitsmethode".
Hier sollten die Kinder nicht erst lernen, wie einzelne Laute geschrieben
werden, sondern sich gleich das Aussehen ganzer Worte oder sogar Satzteile
einprägen. Aber das, so Max Coltheart, ist eigentlich eine Überforderung: O-Ton 8 (Coltheart): But if you want to teach a child to play the . Which is phonics. Sounding out. Zitator (voice over): Wenn
man einem Kind Klavierspielen beibringt, bringt man ihm Tonleitern bei. Das
ist langweilig, aber es geht nicht anders. Es muss die Tonleitern problemlos
spielen können. Man beginnt nicht mit einem Konzert - und beim Lesen beginnt
man nicht mit einem Roman. Man muss das Äquivalent der Tonleitern
unterrichten - die Ausspracheregeln für Buchstaben. Gleich mit dem
verstehenden Lesen anzufangen ist, wie mit einem Konzert zu beginnen. Man
muss mit Tonleitern anfangen, also mit der Phonologie. Lautem Buchstabieren.
Selbst wenn Erwachsene stumm lesen, wird innerlich automatisch die Aussprache
der Worte aktiviert. Das heißt aber nicht, dass das Lesenlernen nach Gehör
auf Dauer die optimale Methode wäre. Selbst Kinder, die so lesen gelernt
haben, dürfen nicht immer so weitermachen. O-Ton 9
(Coltheart): Then you've got to tell them ... it's a very slow
way of reading. Zitator
(voice over): Man
muss ihnen sagen: Ich habe dir beigebracht, zu buchstabieren. Jetzt hör' auf
damit. Das ist paradox, denn Buchstabieren baut das Vokabular von Wörtern
auf, die beim Sehen erkannt werden. Aber man muss das Buchstabieren aufgeben,
weil es eine langsame Lesemethode ist. Atmo Wispern /Plappern Erzählerin: Je
besser Kinder lesen können, desto mehr Wörter erkennen sie ohne Rückgriff auf
die einzelnen Laute darin. Doch selbst Erwachsene kennen nicht jedes Wort, dem
sie begegnen. Die Leseforscher sind sich daher einig, dass wir je nach Bedarf
auf zwei verschiedene Arten lesen. Wir erkennen die meisten Worte automatisch
- wissen wie sie ausgesprochen werden und was sie bedeuten. Treffen wir
dagegen auf ein unbekanntes Wort, greifen wir fast wie Erstklässler auf
Ausspracheregeln zurück. Bei ihnen ist deutlich zu hören, welche Worte sie
gleich erkennen - und welche sie sich vorsagen müssen. O-Ton 10 (Erstklässlerin liest): Die
Ritter sind auf einer langen Reise. Sie wollen zur Burg Rabenstein. (mal
schnell, mal stockend gelesen) Erzählerin: Die
zwei Leseprozesse sind im Gehirn offenbar an unterschiedlichen Stellen
angesiedelt. Denn sie können unabhängig voneinander versagen. Die schnelle,
automatische Erkennung benötigt eine Art Lexikon im Gehirn, in dem
festgehalten ist, wie ein Wort ausgesprochen wird. Das ist vor allem wichtig,
wenn ein Wort anders gesprochen als geschrieben wird - etwa bei dem
englischen Wort „have" für „haben". Besonders deutlich zeigen dies
einige Phänomene, die manchmal nach Gehirnverletzungen zu beobachten sind. O-Ton 11
(Coltheart): After brain
damage in a skilled reader ... yatched and they will say "heve" for
"have". Zitator (voice over): Eine
Hirnverletzung kann zu einer sogenannten Oberflächen-Dyslexie führen. Dann
wird sogar ein häufiges Wort wie „have" als „heve" [Aussprache:
höre O-Ton] gelesen. Die Hirnverletzung zerstört das Lexikon, aber die Regeln
sind noch da und die Patienten können nach ihnen lesen. Aber sie sagen „heve"
anstatt „have". Erzählerin: Bei
anderen Patienten verhält es sich genau umgekehrt. O-Ton 12
(Coltheart): And
conversely you can find brain damage ... won't be able to read
"vib" v, I, b. Zitator
(voice over): Andererseits
gibt es Hirnverletzungen, bei denen die Regeln aus dem Gehirn gelöscht
werden. Diese Patienten können bekannte Wörter perfekt lesen, Unsinns-Worte
aber überhaupt nicht. Sie schaffen also ein langes, kompliziertes Wort wie
Rhinozeros, können aber „vib" - v, i, b - nicht lesen. Erzählerin: Bevor
sich das Gehirn allerdings mit der Aussprache und der Bedeutung von Wörtern
herumschlagen kann, müssen die Buchstaben erst einmal von den Augen erfasst
werden. Die meisten Menschen glauben, sie würden dazu von links nach rechts
eine Zeile nach der anderen mustern. Aber so ist es nicht. [Wie auch sonst
beim Sehen gleiten die Augen keineswegs gleichmäßig über die Umgebung,
sondern machen Sprünge und legen zwischendurch Ruhepausen ein. Beim Lesen ist
dieses ständige Wechselspiel so interessant, dass Wissenschaftler in aller
Welt ihren Lebensunterhalt damit verdienen, diese Sprunghaftigkeit zu
erforschen.] Leseforscher Reinhold Kliegl von der Universität Potsdam: O-Ton 13 (Kliegl): Wenn
man sich die Augen ansieht beim Lesen, dann stellt man fest, dass das eigentlich
eher ein Wechselspiel von Ruhepausen ist, die dauern also nicht besonders
lange, so eine Viertel Sekunde, 200 bis 250 Millisekunden, und dann kommen
kurze, ruckartige Bewegungen, das nennt man dann Sakkaden oder eben
Augensprünge und die bringen dann das Auge in der Regel so sieben, acht, neun
Buchstaben weiter. Erzählerin: Dabei
hüpft das Auge aber keineswegs gleichmäßig voran. Wie lange es verweilt,
hängt vom Text ab. O-Ton 14 (Kliegl): Das
heißt also, wenn das Auge auf einem schwierigen Wort ruht, dann ruht es etwas
länger, als wenn es auf einem Wort liegt, das sehr bekannt ist, das sehr
leicht ist, das man vielleicht auch aus dem Satzzusammenhang erraten kann.
Dann sind die Ruhepausen sehr viel kürzer. Erzählerin: Viele
Worte lässt das Auge sogar ganz aus, beispielsweise Artikel oder Wörtchen wie
„in" und „an". Die kann das Gehirn oft aus dem Zusammenhang erraten
und dirigiert die Augen deshalb darüber hinweg. Raten ist allerdings riskant.
Wenn es schief geht, reagieren Gehirn und Auge. Das zeigt sich
beispielsweise, wenn jemand falsch vorliest. O-Ton 15 (Kliegl): Wenn
da ein Sprechfehler passiert, ein Vorlese-Fehler, dann merkt man also, da
haben wir Fälle gefunden, der kann in der Mitte des Satzes passieren und der
Leser liest den Satz weiter und während er das letzte Wort ausspricht, geht
das Auge mit einem Sprung genau auf das Wort zurück, wo der Fehler passiert
war. Erzählerin: Offenbar weiß das Gehirn also, dass
es rät. O-Ton
16 (Kliegl): Es wäre eigentlich nicht notwendig
für das Auge zurückzugehen, wenn sich der Geist sicher sein könnte, dass
alles, was er gelesen hat, genau so da stand. Erzählerin: Der
alte Lehrerspruch „Du sollst nicht raten, sondern lesen" wird also auch von
Erwachsenen nicht wirklich beherzigt. [Das Gehirn verhält sich eher wie eine
Firma, die es mit der Qualität nicht so genau nimmt, weil es billiger kommt,
Schadensersatz für ein paar Reklamationen zu leisten.] O-Ton 17 (Kliegl): Man
weiß: In 80 Prozent der Fälle hab' ich recht und dann kann ich mir da eine
gewisse Geschwindigkeit erlauben auch auf Kosten der Präzision, weil ich eben
letztendlich doch meistens recht habe. Und sozusagen die Kosten, die dadurch
entstehen, dass ich ab und zu zurückgehe, die sind geringer als die Gewinne,
die ich insgesamt aus dem Leseverhalten mit rausnehme, dafür dass ich
manchmal eben nicht so präzise lese. [Atmo
Wispern/Plappern] Erzählerin: Schon Kinder greifen zu dieser Husch-Husch-Technik.
Es dauert nicht lange und sie lesen Dinge, die im Kopf sind, aber nicht auf
dem Papier. O-Ton
18 (Erstklässlerin liest): Buchstaben
fressen. (Vater: Nix) Fest. Ach so, Buchstaben-Fest. Erzählerin: Wir
lesen also schneller, als wir eigentlich können - einfach dadurch, dass wir
einen Teil der Worte in Wirklichkeit erraten. Das ist aber keineswegs der
einzige Trick, den das Gehirn anwendet, um möglichst schnell zu lesen. Die
naheliegende Methode wäre ja, einen Buchstaben nach dem anderen zu
identifizieren und sie so nach und nach zu einem Wort zusammenzusetzen. So
machen wir es aber nur mit Wörtern, die wir schlecht oder gar nicht kennen.
Die Buchstaben eines bekannten, nicht allzu langen Wortes werden dagegen alle
gleichzeitig analysiert und aktivieren alle zusammen im Lexikon des Gehirns
gleichzeitig das passende Wort, sagt Max Coltheart: O-Ton 19
(Coltheart): When you present let's say eight letters ... there
are eight letters or three. Zitator (voice over): Bei
einem Wort mit acht Buchstaben machen sich acht Einheiten zur
Merkmalserkennung gleichzeitig ans Werk und rufen acht Buchstaben auf. Da
passiert nichts von links nach rechts. Alles passiert parallel. Deshalb macht
es keinen Unterschied, ob es um acht Buchstaben geht oder um drei. Atmo Wispern / Buchstaben plappern Erzählerin: Lesen
ist eine Aufgabe, die extreme geistige Kapazitäten erfordert. Max Coltheart arbeitet
seit Jahren an einem Computerprogramm, das so lesen soll wie Menschen lesen.
Es läuft auf 50 PCs, die zu einem Supercomputer zusammengeschaltet sind.
Jeder von ihnen könnte in Sekundenbruchteilen die Quadratwurzel einer
150-stelligen Zahl ziehen. Doch um ein einziges Wort zu lesen, brauchen sie
sogar zusammen eine halbe Stunde. Das menschliche Gehirn schafft dies
natürlich viel schneller. Für seine Verhältnisse braucht es dennoch viel
Zeit. O-Ton 20
(Coltheart): It does take the brain 600 milliseconds ... of
reading aloud a single word. Zitator (voice over): Das
Gehirn braucht 600 Millisekunden - das ist etwas mehr als eine halbe Sekunde
-um ein Wort laut zu lesen. Und weil Nervenzellen extrem schnell agieren,
sind 600 Millisekunden eine lange Zeit. Wenn das Gehirn also mehr als eine
halbe Sekunde braucht, geht außerordentlich viel darin vor. Folglich muss
enorm viel Rechenarbeit geleistet werden, um nur ein einziges Wort laut zu
lesen. Erzählerin: Angesichts
dieser anspruchsvollen Aufgabe braucht das Gehirn viel Übung, um das normale
Lesetempo zu erreichen. So gesehen ist es kein Wunder, dass viele Menschen
damit Schwierigkeiten haben. Etwa jeder sechste Erwachsene gilt als
funktionaler Analphabet, beherrscht den Umgang mit Texten also nicht praxistauglich.
Fast jeder zweite Hauptschüler kann am Ende seiner Schullaufbahn Texte nicht
flüssig lesen und richtig verstehen. Zwar schnitten die deutschen
Viertklässler bei der letzten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung
IGLU vergleichsweise gut ab. Trotzdem wurde die Lesekompetenz jedes achten
Kindes in Baden-Württemberg als nicht ausreichend eingestuft. In
Rheinland-Pfalz war es jedes zehnte. Andreas Gold, Professor für Pädagogische
Psychologie an der Universität Frankfurt: O-Ton 21 (Gold): Es
gibt also immer Teilgruppen schwacher Leserinnen und Leser, die auch am Ende
der vierten Klasse noch immer nur stockend Sätze erlesen, Wort für Wort einen
Satz erlesen, sogar Buchstaben für Buchstaben ein Wort erlesen. Man kann sich
leicht vorstellen, dass solche mangelnde Leseflüssigkeit ein großes Hindernis
dabei ist, einen Text verstehend zu lesen. Erzählerin: Vor
allem Kinder, in deren Elternhaus Zeitungen und Bücher keine große Rolle
spielen, tun sich schwer. Das beobachtet auch Iris Schudlich. Sie ist Rektorin
der Henry-Harnischfeger-Schule im hessischen Bad Soden-Salmünster und für die
Leseförderung zuständig. O-Ton 22 (Schudlich): Die
Hintergründe sind, dass die Kinder heutzutage ja schon zu Hause nicht mehr
lesen lernen. Sie sehen selten lesende Eltern. Viele Kinder bekommen gar
nicht mehr vorgelesen. Die Lesesozialisation hat sich verändert. Und das kann
die Schule zum Teil gar nicht aufholen. Erzählerin: Viele
gut gemeinte Maßnahmen helfen da wenig. Wer in einem Wettbewerb die besten
Vorleser der Stadt kürt, erreicht gerade die schwächsten Kinder nicht.
[Wissenschaftler wie Andreas Gold sprechen vom Matthäus-Effekt - nach der
Stelle im MatthäusEvangelium: „Denn wer da hat, dem wird gegeben
werden". O-Ton 23 (Gold): Erstens
mal kommen die, die es schon können und zweitens profitieren auch diejenigen
von solchen Maßnahmen häufig am meisten, die es am wenigsten nötig haben. Das
in der Tat ein Problem.] Erzählerin: Lösen
könnten dieses Problem nur die Schulen, denn da müssen alle Kinder hin. Doch
die Schulen erkennen das Problem oft nicht einmal. Andreas Gold: O-Ton 24 (Gold): Offensichtlich
gehen die weiterführenden Schulen davon aus, dass am Ende der Grundschulzeit
flüssig gelesen wird und haben deshalb ein eigenes Lesecurriculum in den
fünften und sechsten Klassen gar nicht mehr vorgesehen. Tatsache ist aber,
dass leider Gottes eine beträchtliche Anzahl vom Fünftklässlern nicht flüssig
lesen können. Und wer nicht flüssig lesen kann, dessen Arbeitsspeicher ist
dermaßen überlastet durch das Dekodieren der Wörter und Sätze, dass er bis
zum strategischen, verstehenden Lesen überhaupt nicht vordringt. Erzählerin: Auch viele Schüler realisieren
nicht, dass sie Probleme beim Lesen haben, sondern glauben, sie hätten bloß
keine Lust. Schließlich können sie die Wörter im Buch enträtseln, wenn sie
sich lange genug mit ihnen beschäftigen. Doch das ist eben nicht Lesen. Das
Erkennen der Worte darf keine Mühe bereiten, damit der Kopf frei bleibt für
das Verstehen des Textes - das eigentliche Lesen. Weil dazu viel Übung nötig
ist, hat das Team von Andreas Gold verschiedene Methoden ausprobiert, die
Kinder in der Schule zum Lesen bringen sollen. Besonders gut abgeschnitten
hat in seiner Untersuchung eine Methode, die von den Lesedidaktikern der
Universität Frankfurt entwickelt wurde und die vor allem auf schlechte
Schüler zielt: die „Lautlese-Tandems". Für gewöhnlich ist es in der
Schule nicht üblich, dass alle auf einmal reden. Doch bei dieser Methode ist
das Klassenzimmer voll mit Schülern, die gleichzeitig Texte vorlesen. O-Ton 25 (Marcel und Lukas): (lesen
zusammen) Eins, zwei drei. Ein kleiner Mann saß auf dem kleinen Sofa . (Lukas
liest solo) Erzählerin: Die
Klasse 6 E der Gesamtschule Bad Soden ist in Lautlese-Tandems eingeteilt.
Jedes Team besteht aus einem eher schwächeren Leser, dem sogenannten
Sportler, und einem etwas stärkeren Leser, dem Trainer. Marcel ist Trainer,
Lukas Sportler. O-Ton 26 (Lukas): Und
dann zählt der Sportler eins, zwei, drei und dann geht es los. Und dann lesen
wir beide, also der Trainer und ich, lesen los. Der Trainer geht mit dem
Finger mit. Und dann, wenn ich den antippe, hört er auf und ich lese weiter
mit, also weiter. Und wenn ich einen Fehler gemacht habe, korrigiert mich der
Trainer. Dann lesen wir wieder zu zweit weiter. O-Ton 27 (Gold): Es
ist einfach eine Methode, die erzwingt, dass tatsächlich laut gelesen wird.
Es gibt ja unglaublich viele Vorschläge, wie man Kinder zum Lesen kriegt.
Aber die anderen Vorschläge, um über die Lesemotivation Anreize zu geben, die
können halt nicht sicherstellen, dass die Bücher tatsächlich in die Hand
genommen werden. Hier haben Sie eine Methode, die einfordert, dass jeder von
den beiden Aktivität bringt. Und das haben sie eben im normalen Unterricht
nicht. Erzählerin: Die
Studie von Golds Team zeigt: Schülerinnen und Schüler lernen mit dieser
Methode Texte besser lesen und verstehen, als wenn sie in der gleichen Zeit
normalen Deutschunterricht haben. Sie können hinterher schneller lesen,
verstehen die Texte besser und sie halten sich selbst für besser im Lesen.
Dabei legen keineswegs nur die Sportler zu, sondern auch die Trainer. O-Ton 28 (Gold): Das
Prinzip des kooperativen Lernens, dieses Tandems auf einer gleichen Ebene,
ist offenbar ein sehr mächtiger Lernhelfer an der Stelle. Und hier hat man
auch, haben die Kinder die Möglichkeit, Korrekturen von Gleichaltrigen
entgegenzunehmen, ohne dass es gleich die ganze Klasse hört. Erzählerin: In
„Sportler" und „Trainer" eingeteilt werden die Kinder anhand der
Ergebnisse eines Lesetests. Das mache keine Probleme, versichert die für die
Leseförderung zuständige Schulleiterin Iris Schudlich. Dabei hilft, dass das
Leseprogramm als Sport verpackt ist. O-Ton 29 (Schudlich): Die
Kinder sehen an der Zahl, aha, der hat einen besseren Lesequotienten als ich
und der ist jetzt der Trainer. Und sie wissen, analog zum Sport, und das
können Kinder sehr gut verstehen, wenn einer im Sport gut sein will, gut
Fußball spielen will, dann muss er trainieren. Und genauso ist das beim Lesen
auch. So wird die Methode eingeführt. Erzählerin: Und
wer als Lese-Sportler fleißig trainiert und besser wird, der kann nach dem
nächsten Test durchaus zum Trainer aufsteigen. Auch ihre Lesemuffel haben mit
diesem Programm Fortschritte gemacht, sagt Iris Schudlich: O-Ton 30 (Schudlich): Einige
finden Lesen ganz schrecklich. Mit der Zeit, wenn das Lesen routinierter
wird, das Lautlesen im Tandem, und die Kinder feststellen, sie haben Erfolge
und sie werden nicht bewertet, wie es sonst im Unterricht üblich ist. Sie
lesen zu zweit, das ist schon einmal eine Erleichterung. Sie müssen nicht
vorlesen und haben den Stress, jetzt muss ich gut lesen. Atmo Wispern / Plappern Erzählerin: Leseforscher
machen Schüler aber nicht nur zu Sportlern und Trainern, sondern auch zu
Detektiven. Das Programm „Textdetektive" wurde von Golds Arbeitsgruppe
für fünfte und sechste Klassen aller Schulformen entwickelt. Anders als die
Lautlese-Tandems soll es nicht die einfachen Lesefähigkeiten fördern, sondern
Lesestrategien. Die sollen nach einem Beschluss der Kultusministerkonferenz
in Deutsch unterrichtet werden, was aber noch zu selten passiert.
Lesestrategien dienen dazu, einen Text leichter zu verstehen und besser zu
behalten, sagt der Psychologe Andreas Gold: O-Ton 31 (Gold): Ich
vergleiche es immer damit, dass wenn Sie einen Text strategisch lesen, dann
sieht ein Text, also ein Buch, eine Seite, hinterher nicht mehr so aus wie
sie vorher ausgesehen hat. Also die Inhalte der Seite finden leichter den Weg
in den Kopf des Lesers, wenn auch Dinge, die im Kopf des Lesers sind, den Weg
auf die Seite im Buch gefunden haben. Erzählerin: Dahinter
steht die viel zitierte „Theorie des Textverstehens" von Walter Kintsch,
einem emeritierten Psychologieprofessor der University of Colorado. Laut
Kintsch ist das Lesen eine Art Kreislauf: Was auf der Seite steht, aktiviert
Inhalte des Gedächtnisses. Wir bilden Erwartungen, was in dem Text stehen
könnte. Sie beeinflussen, wie genau wir den Text lesen und was wir von ihm
aufnehmen. Diese Informationen verändern unseren Wissenstand, was wiederum
das weitere Lesen des Textes beeinflusst. Lesestrategien sollen diese
Prozesse fördern und optimieren. Es gibt viele verschiedene Lesestrategien.
Für das Programm Text-Detektive wurden sieben wichtige ausgewählt. Die
Lehrerin stellt sie der Klasse als Detektiv-Methoden vor. Wie ein Detektiv
sollen die Kinder beim Lesen etwas herausfinden, nämlich wichtige
Informationen des Textes. Zu jeder Detektiv-Methode gibt es ein
Detektivkärtchen, auf dem sie kurz zusammengefasst wird. Am
Anfang kommen die sogenannten erweiternden Strategien zum Einsatz: O-Ton 32 (Gold): Wir
sprechen von sogenannten elaborativen Strategien, wenn wir die Textinhalte,
die auf der Seite stehen, mit eigenen Vorstellungen, mit Bildern, mit
Grafiken usw. verknüpfen, die der Leser schon vorher im Kopf hat. Das sind
dann erweiternde Strategien, weil sie fügen eigentlich dem Text noch etwas
hinzu. Erzählerin: Die
Schüler überlegen sich beispielsweise anhand der Überschrift, was in dem Text
überhaupt stehen könnte. So können sie das zu Lesende besser einordnen. Beim
Lesen versuchen sie dann, für einen abstrakten Gedanken konkrete
Anwendungsbeispiele zu finden. Anschließend wird der Text mit anderen
Strategien auf das wirklich Interessante eingedampft: O-Ton 33 (Gold): Wir
sprechen von der Gruppe der „ordnenden Strategien" oder „reduktiven
Strategien", wenn es darum geht, das Wichtigste zu unterstreichen,
Schlüsselbegriffe herauszuschreiben, Texte in eigenen Worten
zusammenzufassen. Das alles macht einen Text kürzer oder macht den Inhalt
eines Textes kürzer. Erzählerin: So
lässt sich das Wesentliche besser merken. Gold hat die Detektivmethode mit
über 170 Lehrkräften und über 4.000 Schülern der fünften und sechsten Klasse
überprüft und festgestellt, dass die Kinder mit ihrer Hilfe Texte tatsächlich
besser verstehen. Je besser das Lesen klappt, desto wichtiger wird also der
Sinn des Textes. Die Buchstaben, mit denen alles beginnt, treten in den
Hintergrund. Das lässt sich mit einem verblüffenden Experiment im
psychologischen Labor illustrieren. Eine Versuchsperson liest am Bildschirm
eines Computers einen Text, der aus Groß- und Kleinbuchstaben zusammengesetzt
ist, die sich ständig abwechseln. Das Wort Baum bestünde also aus dem
„B" als Großbuchstaben, einem kleinen „a", einem großen „U"
und einem kleinen „m". Doch wenn die Augen einen ihrer vielen Sprünge
machen, tauscht der Computer sämtliche Buchstaben aus. Das „b" ist nun
klein, das „A" groß und so weiter. Die Versuchsperson merkt davon nichts
- so unglaublich das klingt. Noch einmal der Leseforscher Reinhold Kliegl: O-Ton 34 (Kliegl): Das
heißt also in der Tat, vieles von dem, was wir lesen, sind wirklich
Produktionen unseres Geistes. Und wir müssen uns irgendwie darauf einstellen,
dass wir wirklich nur sehr wenig an Information, also genau das, was ihn
wirklich brauchen, um das relevante Wissen zu aktivieren und für die
Verarbeitung bereitzustellen - das holen wir uns raus, aber vieles von dem,
was wir lesen, kommt aus dem Gedächtnis, kommt aus den Erwartungen, die wir
über den Text haben. O-Ton 35 O-Ton-Collage mit Kindern ...
da bist du also ... (Musik) |